Holiday Ghosts – West Bay Playroom (2019)

Mit Rollerblades auf die südenglische Strandpromenade: Holiday Ghosts aus Cornwall machen mit lässigem LoFi-Rock ’n‘ Roll ziemlich viel richtig.

Erschienen am 15. Februar 2019 auf PNKSLM Recordings.

Manchmal gibt es Tage und die dazugehörigen Platten, die einem auch mal den guten alten Texteinstieg mit Wetterbezug erlauben. Also: Draußen wehen Vorahnungen des Vorfrühlings durch die Straßen, das Wochenende naht und Holiday Ghosts aus dem Süden Englands drücken euch mit charmantem Lächeln die perfekte Platte dazu in die Hand. Wunderbar lässiger LoFi-Rock ’n‘ Roll, der geradezu nach Sonnenbrille und einem eiskalten Heineken schreit. Manchmal braucht es eben nur in Töne gegossene Attitüde, um ein Album zu einer runden Sache zu machen.

Ein kleiner Vorgeschmack auf YouTube: 

Dementsprechend wird man auf West Bay Playroom zwar ziemlich viel Spaß, aber keine wirklichen inhaltlichen Überraschungen finden – die musikalischen Vorbilder haben in dieser Hinsicht vielleicht aber auch einfach schon alles gesagt. Für tiefergehende Informationen wende man sich daher bitte an The Modern Lovers, Violent Femmes, The Pretty Things oder die diversen Projekte von Billy Childish. Soviel ist allerdings sicher: Die zweite Platte der vier Boys und Girls aus Cornwall klingt ganz bestimmt auch noch gut, wenn das Wetter wieder schlechter wird.

Das ganze Album auf Bandcamp:

 

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Cass McCombs – Tip of the Sphere (2019)

West-Coast-Rocker Cass McCombs singt vom Leben im postfaktischen Amerika.

Erschienen am 8. Februar 2019 bei Anti-Records

Obwohl ihm das Etikett gerne anhaftet: Americana ist an Cass McCombs eigentlich nur seine Biographie als autodidaktischer Hobo, der seine Zwanziger auf Sofas von Bekannten, in schummrigen Bars und Universitätsbibliotheken zwischen San Francisco und New York verbracht hat. Ansonsten ist der oft ein wenig enigmatisch daherkommende Kalifornier vor allem ein Genre-Anarchist. Seine früheren Platten zitieren noisigen Punk, Garage-Rock, Blues, Folk und den smoothen Westküsten-Sound der 70er – irgendwo zwischen Grateful Dead und Little Feat.

Ein kleiner Vorgeschmack bei Youtube:

Auch auf seinem neunten Album nimmt McCombs alles mit, was die 70er an Brauchbarem hinterlassen haben und baut sich daraus wieder ein ganz eigenes musikalisches Heim. Der zweite Track „The Great Pixley Train Robbery“ (Video oben), lockt da mit seinem zwingenden Outlaw-Rock allerdings erst einmal auf die falsche Fährte. Denn auf dem Rest der Platte dominieren die für McCombs mittlerweile so typischen subtilen Gesten – auch in den Lyrics. Und doch – oder gerade deswegen – lohnt sich in beiden Bereichen wieder einmal das genaue Hinhören. Denn auch wenn das Rhodes Piano noch so leichtfüßig grooven mag, textlich zeigt sich McCombs als einer der wenigen zeitgenössischen Künstler, dem es um mehr als nur Beziehungsanalysen, Kifferfantasien und Eskapismus geht. Der Kalifornien beschäftigt sich auf „Tip of the Sphere“ mit Phänomen der postfaktischen Demokratie, Ungerechtigkeit oder der Psychologie des Verbrechens. Cass McCombs beweist damit: Auch das Subtile ist politisch.

Das ganze Album bei Bandcamp:

 

 

Fünfziger: The Flying Burrito Brothers – The Gilded Palace of Sin (1969)

Mit 50 Jahren gewinnt der Blick zurück an Klarheit. Das gilt im Leben ebenso wie in der Popmusik. Was bleibt übrig, wenn Hypes und Zeitgeist sich verabschiedet haben? In unserer Serie „Fünfziger“ geht es deshalb um Platten, die vor genau einem halben Jahrhundert ihren Fußbadruck in der Musikgeschichte hinterlassen haben. Heute: Gram Parsons und sein psychedelischer Kreuzzug nach Nashville.

Mit 50 Jahren gewinnt der Blick zurück an Klarheit. Das gilt im Leben ebenso wie in der Popmusik. Was bleibt übrig, wenn Hypes und Zeitgeist sich verabschiedet haben? In unserer Serie „Fünfziger“ geht es deshalb um Platten, die vor genau einem halben Jahrhundert ihren Fußbadruck in der Musikgeschichte hinterlassen haben. Heute: Gram Parsons und sein psychedelischer Kreuzzug nach Nashville.

Was tut man als millionenschwerer Erbe einer erzkonservativen Südstaaten-Familie im Jahr 1969, wenn man mit einer göttlichen Stimme gesegnet ist und das Leben als Sänger der Byrds langweilig wird? Na klar: Man versammelt die besten Musiker weit und breit und sucht völlig zugedröhnt nach der sagenumwobenen Kreuzung zwischen Country und Soul, um von dort aus mit brennenden amerikanischen Fahnen in den Sonnenuntergang zu reiten. Gram Parsons und seine Flying Burrito Brothers veröffentlichten am 6. Februar 1969 mit The Gilded Palace of Sin ein Album für die Ewigkeit, dass wie so viele legendäre Platten zum Zeitpunkt seines Erscheinens so gut wie unbeachtet blieb.

Gram Parsons ist eine der schillerndsten Figuren der amerikanischen Musikgeschichte, im deutschsprachigen Raum aber so gut wie unbekannt. In seiner Heimat ranken sich so viele halbwahre, frei erfundene und teilweise unfassbar absurde Geschichten um seine Person, dass eine historisch abgesicherte Einordnung seiner Biographie fast unmöglich erscheint. Folgt man der Mythologisierung bis zum bitteren Ende, so war er ein Mitglied der Manson Family, der Geliebte von Keith Richards und jemand, der seinen eigenen Leichnam von seinem Tourmanager aus den Händen der trauernden Familie entführen ließ, um unter den Joshua Trees in der gleichnamigen kalifornischen Wüste rituell verbrannt zu werden.

Verbürgt ist davon zumindest, dass sein Tourmanager Phil Kaufman dem Massenmörder Charles Manson bei einem gemeinsamen Knastaufenthalt Anfang der Sechziger eine Gitarre geschenkt hatte. Richtig ist auch, dass die Rolling Stones zumindest misstrauisch beäugten, was Keith mit diesem jungen Amerikaner im stillen Kämmerlein trieb. Vermutlich spritzten sich die beiden einfach ununterbrochen gegenseitig Heroin und schrieben massenhaft Songs, von denen außer Wild Horses leider keiner das vermeintliche Liebesnest der beiden Freunde verließ. Dass der zuerst von den Flying Burrito Brothers und später erst von den Rolling Stones veröffentlichte Klassiker ursprünglich aus Parsons Feder stammt, stritt er in seinem letzten Interview 1973 selbst ab, das Gerücht gibt es bis heute. Tatsache ist aber, dass die Freundschaft mit Parsons das Gitarrenspiel von Keith Richards entscheidend prägte und damit auch die Country-Elemente auf Sticky Fingers und anderen Alben um 1970 begründete. Ein Trend, der in der britischen Heimat der Stones unter anderem bei Elton John, Rod Stewart und dessen Band The Faces auf fruchtbaren Boden fiel.

Der halbwegs verifizierbare Hauptstrang der Lebensgeschichte von Gram Parsons bis zur Gründung der Flying Burrito Brothers geht in etwa so: Geboren am 5. November 1946 als Enkel eines Großgrundbesitzers in Florida, sah der neunjährige Gram Parsons einen Auftritt von Elvis Presley und entschied sich sofort für ein Leben als Musiker. Nach dem Selbstmord seines Vaters und dem alkoholbedingten Tod seiner Mutter wurde er für den Rest seines Lebens mit einem großzügige bemessenen Trust Fund ausgestattet, schrieb sich in Harvard für Theologie ein und gründete dort die International Submarine Band. Mit seinen Kommilitonen erreichte er lokal schnell eine große Popularität, schon bald wurde die Truppe als Geheimtipp gehandelt und siedelte nach nur einem halben Jahr nach New York City über, um sich ganz einer musikalischen Karriere zu widmen.

Noch bevor das heute legendäre Debüt-Album der International Submarine Band veröffentlicht wurde, wurde Gram Parsons aber von den Byrds abgeworben und verließ seine erste ernsthafte Band. Trotz seiner Unerfahrenheit überzeugte er die damals wohl erfolgreichste Gruppe des Landes von seiner Vision einer Synthese aus Country und Rock, die in Form des zunächst kommerziell gescheiterten aber heute anerkannten Konzeptalbums Sweetheart of the Rodeo verwirklicht wurde. Doch schon nach wenigen Monaten stieg er aus, angeblich weil er an einer Tour durch Südafrika aus Protest gegen die Apartheid nicht teilnehmen wollte.

Wie so oft gelang es dem charismatischen Sänger auch an diesem Punkt, die entscheidenden Persönlichkeiten für sich einzunehmen und für immer an sich zu binden. Denn zur Kernbesetzung seiner neuen Band Flying Burrito Brothers gehörte mit Chris Hillman auch ein Gründungsvater der Byrds und damit einer der am besten vernetzten Köpfe in den Bereichen Country, Bluegrass und Folk sowie dem Musikbusiness insgesamt.

Die Entstehung des eigentlichen Albums ist im Gegensatz zu seiner Vorgeschichte schnell beschrieben: Fünf der wahrscheinlich besten Musiker auf ihrem Gebiet gehen in Nashville für ein paar Wochen ins Studio und berauschen sich an allen möglichen Drogen, vor allem aber an ihrem elektrisierenden Zusammenspiel. Das Songmaterial ist fantastisch, einige der besten Kompositionen von Hillman und Parsons treffen auf geschmackvoll ausgesuchte zeitlose Klassiker und intelligente Picks aus der zweiten Reihe wie das ergreifende Dark End of the Street, ein vergessener Hit des Soulsängers James Carr.

Für ungeübte mitteleuropäische Ohren mag sich die Version der Flying Burrito Brothers mit dem typischen Pedal Steel nach purem Country anhören, bei genauerem Hinhören und vor allem im Vergleich zu zeitgenössischen Aufnahmen aus Nashville erschließt sich aber, dass die Grenzüberschreitung keineswegs nur in der Wahl des Songs liegt. Parsons ließ sich auch vom emotionalen Gesangsstil eines James Carr inspirieren und die Band wird mitgerissen von einem verschleppten Groove, den die Countrywelt so noch nie gesehen hat.

Thematisch entspricht Dark End of the Street dem Profil des Cheating Songs, einem Topos, der bis heute auf fast jeder Countryplatte zu finden ist. Tatsächlich liefern die Flying Burrito Brothers quasi einen Blueprint für die perfekte Zusammenstellung eines Albums aus den klassischen Song-Formaten: Do Right Woman ist eine der ergreifendsten Country-Balladen aller Zeiten, Hippie Boy erfindet die obligatorische Spoken-Word-Nummer als surrealistisches Mini-Hörspiel inlusive Gospelchor neu und der wilde Doppelschlag aus Hot Burrito No. 1 und 2 scheint die spätere Annäherung an die Wut des Punk vorwegzunehmen. Die Ausgewogenheit dieser Konstellation geht soweit, dass man aus heutiger Sicht fast schon von der Einführung des Konzeptalbums in die bis dato auf Singles fixierte Countrywelt sprechen kann. Parsons liebte die Traditionen, aber er hasste den politisch reaktionären und kommerziellen Aspekt Nashvilles und diese Platte wirkt wie ein Manifest für eine Neuerfindung des Country aus seiner eigenen Tradition und der Versöhnung mit dem Rest der (amerikanischen) Musikwelt.

So verschmelzen die Flying Burrito Brothers mithilfe eines geradezu rauschhaften Zusammenspiels vermeintlich unversöhnliche Stränge der amerikanischen Populärkultur zu einem kosmischen Schauspiel, das bis heute als Inspirationsquelle für unzählige Seelenverwandte von Parsons in einer der lebendigsten Musikszenen der Welt strahlt. Diese Musik brennt in jeder Sekunde lichterloh und das Feuerwerk an psychedelisch angehauchten Grenzüberschreitungen zwischen Country, Rock und Soul ist der plattengewordene Beweis, dass es irgendwo ganz tief unten in der amerikanischen Seele einen gemeinsamen Kern gibt. Dahinter verbirgt sich eine Hoffnung, die zu Lebzeiten Gram Parsons trotz Vietnam und dem Nachhall der Segregation in weiten Kreisen der Gesellschaft wesentlich selbstverständlicher war als heute. Deshalb hat The Gilded Palace of Sin in 50 Jahren nichts an Aktualität verloren und ist der perfekte Ausgangspunkt für jeden mitteleuropäischen Musikliebhaber, um die eigenen anti-amerikanischen Ressentiments abzustreifen und den gigantischen Kosmos der Countrymusik für sich zu entdecken.

Das ganze Album bei Spotify:

Nebenan im Plattenregal:

Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Anna St. Louis – If Only There Was A River (2018)
Buxton – Stay Out Late (2018)
Jess Williamson – Cosmic Wink (2018)
Twain – Rare Feeling (2017)

River Whyless – Kindness, A Rebel (2018)

Die Zutaten waren auf dem Debüt vor zwei Jahren schon da. Aber erst auf diesem zweiten Album gelingt es River Whyless wirklich, ihren facettenreichen Stilmix in einen unwiderstehlichen Sound zu verwandeln.

Erschienen am 12. Juli 2018 bei House Arrest / Roll Call

Manchmal braucht man als Band Impulse von außen, um so richtig in Fahrt zu kommen. 2016 hatten River Whyless ihr erstes Album „We All The Light“ veröffentlicht, leider mit mäßigem Erfolg. Dabei hatte es durchaus seine Stärken: Eingängige Melodien trafen auf bisweilen exotische Rhythmen und einen folkigen Bandsound, der in Sachen Zusammenspiel mit akustischen Instrumenten schon damals über jeden Zweifel erhaben war. Es fehlte ein wenig das Gefühl der Überzeugung und Dringlichkeit, die Platte wirkte insgesamt fast ein bisschen unbeteiligt daher gespielt. Doch dann kam auch für die Band aus Ashville in North Carolina der Schock durch die Präsidentschaftswahlen und damit das Bedürfnis, mit der Musik eine ganz klare, starke Aussage zu treffen. So etwas kann durchaus in die Hose gehen, im Falle von River Whyless aber führt es dazu, dass die Einzelteile plötzlich wie ein Uhrwerk ineinander greifen.

Das Musikvideo zur Single „Born in the right country“ auf Youtube:


Plötzlich macht alles Sinn: Die weltoffene Zutatenliste, die melancholische Grundstimmung und das extrem reflektierte Songwriting ergeben den bislang vielleicht wertvollsten musikalischen Kommentar zur fortschreitenden Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die Europa inzwischen nicht nur im übertragenen Sinne betrifft. Und anders als bei dezidiert politischen Songs fehlt bei River Whyless nie die Leichtigkeit, die das Ganze erträglich und hörenswert macht. Handfeste Agitation und gehässige Rechthaberei ist ihre Sache nicht, der irgendwie doch uramerikanische Sound scheint eher auf Versöhnung und Verständigung aus zu sein. Und so fällt auch nicht weiter negativ auf, dass der Rest des Albums erneut recht unterschiedlich ausgearbeitet wurde. Hier blubbern nervöse Synthies, dort lassen die afrikanischen Rhythmen von Paul Simons Graceland-Phase grüßen. Aber das alles hat jetzt nicht nur Sinn und Zweck, sondern scheint im Gegensatz zum Debüt um eine fest verwurzelte Band-Identität zu kreisen. Das Ergebnis ist eine Platte, die sehr viel Freude macht und dank des fantastischen Zusammenspiels auch ein spektakuläres Live-Erlebnis verspricht.

Das ganze Album bei Spotify:


Nebenan im Plattenregal:

Sunflower Bean – Twentytwo in blue (2018)
Sam Evian – You, Forever (2018)
Natalie Prass – The Future and the Past (2018)