Yves Jarvis – Sundry Rock Song Stock (2020)

Psychedelic / Ambient / Free Form

Jetzt erst mal nach Hause, Kakao mit Bonusmaterial warm machen und ab auf die Couch. Die Blätter des Zitronenbaums vor dem Fenster wippen im Takt der Regentropfen, die Musik ist überall dazwischen. Du nimmst ein altes Buch vom Kaffeetisch, aber die Augen fallen immer wieder zu und du siehst nur noch blaue und gelbe Flecken. Na gut, dann halt einfach träumen. Von einer komplett grünen Welt ohne Menschen, aber mit vielen schrägen Vögeln. Wo immer die Sonne scheint und es immer regnet, wo immer Tag ist und immer Nacht. Wo die Bäume heimlich singen und tanzen, wo die Bäche aus dem Tal hinauf in die Berge fließen.

Nebenan im Plattenregal:
Yves Jarvis – The Same But By Different Means (2019)
Andre Ethier – Croak In The Weeds (2019)
Luke Temple – Both-And (2019)

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Andre Ethier – Under Grape Leaves (2017)

Indie Folk / Bedroom Pop / Ambient

Ich kann es immer noch sehen, es ist wirklich als würde ich es gerade jetzt zum ersten Mal sehen. Dort in einem großzügigen, sommerlich warmen Speisesaal sitzt er, mit dem Rücken zum Meer, in dem Rochen und vielleicht Haie schwammen. Ich saß ihm gegenüber, am gleichen Tisch, und doch scheint es als würde er mich durch die Tür beobachten, durch die schon alle anderen gegangen sind, sodass nur noch wir beide übrig blieben, die wir als letztes angekommen und zum Mittagessen erschienen waren. Das ganze Wochenende lag vor uns, Paracas war nicht weit weg. Wir könnten am Montagmorgen zurück in die Stadt fahren und immer noch pünktlich an der Schule ankommen. Meine Mutter hatte keine Zeit, deswegen nahm er mich mit. Er nahm mich immer auf seine Reisen mit, wenn sie ihn nicht begleiten konnte. Seine Firma bezahlte ihm meistens die Übernachtungen in schicken Hotels. Ich glaube er mochte die Reisen mit mir, aber für mich waren sie das Größte, denn ich hatte Paracas und die ganzen anderen Orte noch nie zuvor besucht.

Nebenan im Plattenregal:
Andre Ethier – Croak In The Weeds (2019)
Aoife Nessa Frances – Land Of No Junction (2019)
Cate Le Bon – Reward (2019)

Andre Ethier – Croak In The Weeds (2019)

Indie Folk / Bedroom Pop / Ambient

Es war schon September, das Geld ging so langsam zur Neige und die Brandung wurde jeden Tag ein wenig lauter. Die Nächte waren schon lange nicht mehr so warm wie im Hochsommer, viele Urlauber hatten ihre Zelte in den letzten Tagen abgebaut, ihre Autos beladen und die Heimreise angetreten. Geblieben waren die Surfer, die Kiffer, die Misfits und alle, die zuhause sowieso nichts zu tun hatten. Die Mädchen waren schon abgehauen, sie hatten es mit uns Chaoten nicht mehr ausgehalten und konnten zwei Sitzplätze im VW-Bus einer jungen Familie ergattern. Ich lag die meiste Zeit in meinem Pulli am vernebelten Strand und las Platon, Zeile für Zeile und jedes Kapitel mindestens drei Mal. Eines Tages ging ich morgens am Deich entlang spazieren, dort wo kein Sand mehr war und dichtes Schilf die nahe Flussmündung ankündigte. Ein kalter Wind blies vom Meer herüber, im Westen formierte sich eine Front aus dunklen Wolken. Als ich wieder am Zeltplatz ankam, fielen unzählige kleine Regentropfen auf die Planen, ein leises Knistern lag in der kühlen Luft. Rüdiger trat ohne Hose aus seinem Zelt und zündete sich einen großen Joint an. Er blinzelte nach Südosten, wo normalerweise die Sonne um diese Uhrzeit gestanden hätte. Dann nahm er einen tiefen Zug und sagte zu mir, während er den Rauch ausatmete: Der Sommer ist vorbei, heute fahren wir.

Nebenan im Plattenregal:
Gabriel Birnbaum – Nightwater (2020)
Aoife Nessa Frances – Land Of No Junction (2019)
Andre Ethier – Under Grape Leaves (2017)

Gabriel Birnbaum – Nightwater (2020)

Instrumental / Ambient / LoFi

Den ganzen Tag habe ich einen Bildschirm angestarrt, das schwachblaue Glühen hat sich durch die Netzhaut in mein Hirn eingebrannt. Ich bin seit Tagen so schlaflos wie die Stadt, in der ich lebe. Überall ist Lärm, alles ist in Aufregung, durch Drähte und Strahlen dringt die Unruhe bis ganz tief in mein winziges Appartement. Meine Ohren sind umschlossen von dicken Kopfhörern, die Augen habe ich seit Stunden nicht geöffnet. Ich erfühle die Aufnahmetaste, der Motor knackt kurz und das Band beginnt sich zu drehen. Meine Hände gleiten über die Klaviatur, ich drehe an den Reglern und lasse mich von der Strömung der Klänge treiben, weit weg in eine andere Zeit. Plötzlich ein lautes Knacken, das Band ist zu Ende. Ich öffne die Augen und sehe aus dem Fenster, es ist Tag. Ein Lieferwagen hält vor dem Liquor Store gegenüber, der Fahrer steigt mit einem Paket unter dem Arm aus und drückt auf die Klingel.

Nebenan im Plattenregal:
Luke Temple – Both-And (2019)
Yves Jarvis – The Same But By Different Means (2019)
Art Feynman – Blast Off Through The Wicker (2017)

Bibio – Phantom Brickworks: Zimmer mit Aussicht im Overlook Hotel

Bibio alias Stephen Wilkinson gilt als Erfinder des Electronic Folk und hat damit eine der interessantesten Ausdrucksformen der gegenwärtigen Popmusik zu verantworten. Auf seinem neuen Album Phantom Brickworks taucht er noch tiefer in die meterdicke Soundwatte ein, die seine Musik schon immer auszeichnete.

Bibio - Phantom Brickworks - Artwork

3.11.2017 – Warp Records / Rough Trade

In den West Midlands sind schon im Herbst die Nächte lang und dunkel. Außerdem hat die Gegend eine große Folktradition und auch heute noch eine sehr aktive Musikszene. Bibio ist es gelungen, diesen Background mit elektronischen Tüfteleien zu verfeinern und damit international Aufmerksamkeit auf sich und seine beschauliche Heimat zu lenken. Im Video zur gekürzten Vorab-Single Phantom Brickworks III taucht sie außerdem in Form eines Waldwegs auf, der ein paar Minuten lang so etwas wie die Hauptrolle des kurzen Streifens spielen darf.

Bislang hat Bibio mit jedem Album hörbar Türen geöffnet und seinem Repertoire an musikalischen Ausdrucksformen stets weitere Komponenten hinzugefügt. Auf der neuen Platte schließt er aber die meisten der bisher geöffneten Türen wieder und zieht sich scheinbar vollständig in eine Art Innenleben aus klingenden Landschaften zurück, die so etwas wie das Grundrauschen seines bisherigen Schaffens waren. Doch mit zunehmender Spieldauer tun sich Fenster auf, die den Blick auf eine unwirkliche Außenwelt freigeben. Der Rückzug hat sich also gelohnt, denn er bringt die zahlreichen Fans von Bibios einzigartiger Musik noch näher heran an die Wurzel ihres Entstehens: Die unaufhörliche Meditation über den Wesen des Klangs.