Die Entzugsklinik war in einem der ärmeren Vororte von Chicago, die Gebäude waren aus rotem Backstein. Alle Wände und Kleider waren weiß, die Bäume und Wiesen leuchtend grün. Jeff hatte nach einem Monat Aufenthalt im geschlossenen Teil das Schlimmste überstanden und durfte in einen Übergangsbereich ziehen, wo die Überwachung etwas lockerer war. Ein Besucher brachte ihm eine Gitarre vorbei, aber es waren immer und überall andere Menschen um ihn herum. Am wenigsten war in der Waschküche los, also schlich er sich dort hinein und begann einen alten Song zu spielen. Seine Hände betasteten das Instrument zunächst wie einen fremden Gegenstand, aber nach kurzer Zeit war alles wie früher. Er sang leise vor sich hin und fühlte sich ungestört. Plötzlich bemerkte er den alten Mann, der die ganze Zeit in der Waschküche war. Er lächelte und sagte: „Mein Sohn, du hast wirklich Talent. Dir fehlt nur das Selbstvertrauen, aber du gehörst auf die Bühne.“
Es ist lange her, dass wir uns getroffen haben. Beim letzten Mal war ich noch einigermaßen jung und du warst noch nicht wirklich alt. Wir waren auf einer Hausparty mit den coolsten Leuten der Stadt, es gab Drogen und die Zeit stand still. Und jetzt also hier, in dieser dunklen Kaschemme. Der Rauch ist so dick und beißend in den Augen, ich habe dich fast nicht erkannt mit deinen grauen Haaren und deiner Kapuze. Du lehnst dich müde auf die Theke und erzählst mir, wo du überall herumgekommen bist in den ganzen Jahren. Wie du die ganze Welt auf den Kopf stellen wolltest und wie es sich anfühlte, all deine Träume nacheinander leise platzen zu sehen wie Seifenblasen im Regen. Jetzt ist alles vorbei und was uns bleibt, sind die langsam verblassenden Erinnerungen. Mach’s gut, hat mich gefreut dich mal wieder zu sehen.
Im Schaukelstuhl auf einer Veranda in Brooklyn: Gabriel Birnbaum sucht und findet mitten im post-urbanen Wahnsinn ein hübsches Plätzchen für pastorale Folksongs aus dem Herzen des Großstadtlebens.
Arrowhawk Records / 22. November 2019
Das Leben als Musiker in New York ist in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Nebenjobs sind kaum verfügbar und schlecht bezahlt, die Mieten steigen unaufhörlich, die Einnahmen aus dem Verkauf von Tonträgern sind auf dem Tiefpunkt und immer mehr Acts konkurrieren um immer weniger wirklich lohnende Auftrittsmöglichkeiten. Kein Wunder, dass vielversprechende Projekte teilweise jahrelang auf Eis liegen, bevor sie sich endlich ihren Weg an die Oberfläche bahnt. So auch das erste Solo-Album von Gabriel Birnbaum, der sich als Saxofonist in verschiedenen Bands und als Frontmann von Wilder Maker bereits einen Namen gemacht hat. Nun liegt mit Not Alone endlich ein Debüt vor, das eine ganze Reihe von fantastischen Musikern in seinen Credits versammelt und bereits zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung eine wohlige Patina ausstrahlt.
Die lange Reifezeit ist in jedem Ton zu spüren, in jedem sanft verhallenden Akkord und zwischen den Fugen eines betont zurückgelehnten Zusammenspiels. Ein würdiges Bühnenbild für Songs, die nicht zuletzt durch ihre literarische Qualität überzeugen. Gabriel Birnbaum erzählt Geschichten aus dem letzten Rest des wahren Lebens, das sich hinter den Kulissen der Metropole abspielt, er verwandelt sie in poetische Momente der Selbsterkenntnis und lässt zwischen den Zeilen stets das Licht am Ende der Melancholie durchscheinen. Die musikalischen Inszenierungen dieser Geschichten platzen fast vor Spielfreude und berühren mächtige Traditionsfelder amerikanischer Musik wie Folk, Country und Soul mit allem gebotenen Respekt. Das Ergebnis ist eine vielschichtige und klangfarblich extrem stimmige Platte mit neun jahrelang ausgefeilten, aber mit entspannter Leichtigkeit nach Hause gebrachten Songperlen.
Ganz tief ins Herz von Amerika: Wer Bruce Springsteen und Billy Joel gar nicht mag, kann sofort weiterklicken. Für alle anderen hat Craig Finn einen fantastischen Zyklus von musikalischen Geschichten aus dem Rust Belt aus dem Boden gestampft.
Erschienen am 26. April 2019 bei PTKF
Der ganz große Sänger war Craig Finn noch nie. Dafür ist er ein fantastischer Geschichtenerzähler, der Alben von romanhafter Dichte schreibt und mit unwiderstehlichem Feuer vorträgt. Seine Charaktere sind durch die Bank Verlierer, sie treffen in ihrem Leben die falschen Entscheidungen und der Gegenwind des Schicksals bläst ihnen bei jeder Gelegenheit ins Gesicht. Und doch liegt in seiner Musik keinerlei Verbitterung, die Resignation entpuppt sich als Erlösung von einem Kampf, den niemand gewinnen kann. Zusammen mit seiner Truckerstimme, der textlastigen Songsstrukturen und dem explizit amerikanischen Setting ist diese Grundstimmung nicht unbedingt das, was europäische Musikfans in Scharen mitreißt. Auch deshalb gehört Craig Finn wohl zu dieser eigenartigen Spezies von Rockern, die ihre Erfolge ausschließlich in Nordamerika feiern.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Das ist schade, denn auch wer dem literarischen Aspekt von Popmusik nicht die allergrößte Aufmerksamkeit schenkt, kann mit diesem Album einiges erleben. Die ganze Palette an Stilmitteln zwischen Blues und R&B bis hin zu Country und Folk steht Craig Finn und seinem erweiterten Studio-Ensemble zur Verfügung, um die tief in der Rock-Tradition verwurzelten Geschichten des Albums atmosphärisch und stimmungsvoll zu inszenieren. Die Orgeln kreischen, schwerelos gleiten die Gitarrenmelodien dahin und hier und da gesellen sich Bläser oder sogar Chöre dazu. Das ist für unsere Ohren manchmal überladen, macht aber erstens durchweg inhaltlich Sinn und zweitens oft genug Platz für mühelos stromaufwärts schwimmende Grooves, wie sie nur gut abgehangene Rockmusiker nach vielen Jahren Tourleben hinkriegen. Und auch wenn Craig Finn international auch diesmal keine Bäume ausreißen wird, so hat er wenigstens seine bislang beste Platte abgeliefert und sich fest als einer der führenden Songpoeten des Rust Belts etabliert.
West-Coast-Rocker Cass McCombs singt vom Leben im postfaktischen Amerika.
Erschienen am 8. Februar 2019 bei Anti-Records
Obwohl ihm das Etikett gerne anhaftet: Americana ist an Cass McCombs eigentlich nur seine Biographie als autodidaktischer Hobo, der seine Zwanziger auf Sofas von Bekannten, in schummrigen Bars und Universitätsbibliotheken zwischen San Francisco und New York verbracht hat. Ansonsten ist der oft ein wenig enigmatisch daherkommende Kalifornier vor allem ein Genre-Anarchist. Seine früheren Platten zitieren noisigen Punk, Garage-Rock, Blues, Folk und den smoothen Westküsten-Sound der 70er – irgendwo zwischen Grateful Dead und Little Feat.
Ein kleiner Vorgeschmack bei Youtube:
Auch auf seinem neunten Album nimmt McCombs alles mit, was die 70er an Brauchbarem hinterlassen haben und baut sich daraus wieder ein ganz eigenes musikalisches Heim. Der zweite Track „The Great Pixley Train Robbery“ (Video oben), lockt da mit seinem zwingenden Outlaw-Rock allerdings erst einmal auf die falsche Fährte. Denn auf dem Rest der Platte dominieren die für McCombs mittlerweile so typischen subtilen Gesten – auch in den Lyrics. Und doch – oder gerade deswegen – lohnt sich in beiden Bereichen wieder einmal das genaue Hinhören. Denn auch wenn das Rhodes Piano noch so leichtfüßig grooven mag, textlich zeigt sich McCombs als einer der wenigen zeitgenössischen Künstler, dem es um mehr als nur Beziehungsanalysen, Kifferfantasien und Eskapismus geht. Der Kalifornien beschäftigt sich auf „Tip of the Sphere“ mit Phänomen der postfaktischen Demokratie, Ungerechtigkeit oder der Psychologie des Verbrechens. Cass McCombs beweist damit: Auch das Subtile ist politisch.
Musikalische Landflucht: Auf seinem siebten Studioalbum als Phosphorescent genießt Matt Houck vor allem die neue Harmonie in seinem bisher so unsteten Leben.
Erschienen am 5. Oktober 2018 bei Dead Oceans
Text: Alexander Graf
Irgendwie ja beruhigend, dass sich auch Künstler mit den ganz banalen Fragen des Älterwerdens konfrontiert sehen. Phosphorescent-Mastermind Matthew Houck und seiner Frau und Keyboarderin Jo Schornikow ging es jedenfalls vor ein paar Jahren ähnlich wie den meisten hippen Großstadtpärchen mit Ende 30. Das Problem: Warum eigentlich noch in der überteuerten aber winzigen Kiezbutze in New York City residieren, wenn man seine Abende sowieso nur noch mit Windelwechseln oder Netflix verbringt? Die beiden packten also den Nachwuchs ein und ließen sich in Nashville, Tennessee, nieder. Ein Neuanfang im Heartland der amerikanischen Musik – für den Songwriter ein Umzug mit Symbolwert, zurück zu den Wurzeln seiner getriebenen Americana-Gospels und fragilen Country-Elegien. Dort verbrachte Houck dann die Zeit seit der Veröffentlichung seines gefeierten letzten Albums Muchacho (2013) damit, sich in aller Seelenruhe ein neues Studio in einem alten Lagerhaus aufzubauen und an der nächsten Platte zu arbeiten.
Videotipp: Live on KEXP
Der 40-jährige Zausel aus den Südstaaten hat also offenbar endlich sein Glück gefunden – und das hört man. Nach fast 20 Jahren im Kampf mit den eigenen Dämonen, geschwächt von exzessiven Touren, Trennungen, Krankheiten und Großstadtneurosen, klingt Matt Houck auf C’est la vie erstmals geläutert, gesund und zufrieden. Man gönnt es ihm von Herzen. Auch wenn diese neue innere Ruhe der Platte die von Phosphorescent gewohnten inhaltlichen Abgründe und Untiefen nimmt. Es ist in der Kunst nun mal wie im echten Leben: Die allzu schönen Geschichten langweilen meist recht schnell.
Klanglich bleibt das Ganze immerhin ebenso gewohnt eigensinnig und kunstvoll. Schließlich hat es kaum ein anderes musikalisches Projekt in den vergangenen Jahren so geschickt verstanden, gängige Country-Klischees zu brechen. Wer also auf seufzende Pedal-Steel-Gitarren, hymnische Chorgesänge und nasale Gitarrensoli steht, aber auf den üblichen Kitsch gerne verzichten kann, der ist bei Phosphorescent nach wie vor an der richtigen Adresse. Dennoch: Nach C‘est la vie verdient sich Matt Houck vor allem eine Auszeichnung für sein Lebenswerk – Einsteiger greifen besser zu Muchacho oder dem Vorgänger Here’s to Taking it Easy.
Gabriel Birnbaum und Katie von Schleicher sind keine gänzlich unbekannten Gesichter in der Indieszene der Ostküste. Mit der ersten LP ihres gemeinsamen Projekts Wilder Maker setzen sie dem künstlerischen Biotop Brooklyn aus dem Stand ein musikalisch-literarisches Denkmal im Albumformat.
Erschienen am 13. Juli 2018 bei Northern Spy Records
Wer diese Platte als ambitioniert bezeichnet, untertreibt maßlos: Gabriel Birnbaum nennt etwa James Joyce als Inspirationsquelle für seine Texte. Vermutlich bezieht er sich dabei zwar weniger auf ganz dicke Prügel wie Ulysses oder Finnegan’s Wake. Aber auch die Dubliners sind kein bescheidener Maßstab, um das Künstlerleben im Brooklyn des 21. Jahrhunderts als literarische Grundlage für ein Konzeptalbum aufzuarbeiten. Ohnehin kann der Stellenwert der Worte bei diesem Projekt gar nicht genug betont werden. Denn dass die Lyrics hier zunächst ohne vorauseilenden Gehorsam vor der musikalischen Verwertbarkeit entstanden sind, erkennt man schon an den epischen Längen – und Textmengen – mancher Songs. An den Songtiteln lassen sich außerdem bereits die inhaltlichen Eckpunkte ablesen: Beschissene Jobs, komplizierte Beziehungskisten und prekäre Lebensverhältnisse hier, euphorische Erlebnisse, grenzenlose Selbstverwirklichung und die obligatorischen Drogenparties dort.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Textverarbeitung das musikalische Geschehen immer wieder in eine rein begleitende Rolle drängt. Das könnte in die Hose gehen, wäre das Bandgefüge nicht mit einer unglaublich fein abgestimmten Dynamik gesegnet. Außerdem findet das Kollektiv um Katie von Schleicher und Gabriel Birnbaum immer die passende musikalische Inszenierung für jeden lyrischen Twist, zwischen psychedelischer Wucht und kammermusikalischen Minimalismus ist alles möglich. Vor allem aber brechen die Songs zuverlässig ins Hymnische aus, wenn das Versmaß ein bisschen Platz lässt für etwas großzügigere Melodiebögen bietet. Wer möchte, kann sich also stundenlang mit den erzählerisch eingesetzten Stilzitaten und einem insgesamt ziemlich einzigartigen Detailreichtum auseinandersetzen. Aber auch ohne besondere Aufmerksamkeit für den tieferen Sinn des Ganzen ist Zion eines Sammlung von faszinierend unterschiedlichen Songs, die einzeln betrachtet ausnahmslos überzeugen und gemeinsam den schillernden Kosmos einer Stadt atmosphärisch dichter einfangen als so mancher sehenswerte Film.
Die Zutaten waren auf dem Debüt vor zwei Jahren schon da. Aber erst auf diesem zweiten Album gelingt es River Whyless wirklich, ihren facettenreichen Stilmix in einen unwiderstehlichen Sound zu verwandeln.
Erschienen am 12. Juli 2018 bei House Arrest / Roll Call
Manchmal braucht man als Band Impulse von außen, um so richtig in Fahrt zu kommen. 2016 hatten River Whyless ihr erstes Album „We All The Light“ veröffentlicht, leider mit mäßigem Erfolg. Dabei hatte es durchaus seine Stärken: Eingängige Melodien trafen auf bisweilen exotische Rhythmen und einen folkigen Bandsound, der in Sachen Zusammenspiel mit akustischen Instrumenten schon damals über jeden Zweifel erhaben war. Es fehlte ein wenig das Gefühl der Überzeugung und Dringlichkeit, die Platte wirkte insgesamt fast ein bisschen unbeteiligt daher gespielt. Doch dann kam auch für die Band aus Ashville in North Carolina der Schock durch die Präsidentschaftswahlen und damit das Bedürfnis, mit der Musik eine ganz klare, starke Aussage zu treffen. So etwas kann durchaus in die Hose gehen, im Falle von River Whyless aber führt es dazu, dass die Einzelteile plötzlich wie ein Uhrwerk ineinander greifen.
Das Musikvideo zur Single „Born in the right country“ auf Youtube:
Plötzlich macht alles Sinn: Die weltoffene Zutatenliste, die melancholische Grundstimmung und das extrem reflektierte Songwriting ergeben den bislang vielleicht wertvollsten musikalischen Kommentar zur fortschreitenden Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die Europa inzwischen nicht nur im übertragenen Sinne betrifft. Und anders als bei dezidiert politischen Songs fehlt bei River Whyless nie die Leichtigkeit, die das Ganze erträglich und hörenswert macht. Handfeste Agitation und gehässige Rechthaberei ist ihre Sache nicht, der irgendwie doch uramerikanische Sound scheint eher auf Versöhnung und Verständigung aus zu sein. Und so fällt auch nicht weiter negativ auf, dass der Rest des Albums erneut recht unterschiedlich ausgearbeitet wurde. Hier blubbern nervöse Synthies, dort lassen die afrikanischen Rhythmen von Paul Simons Graceland-Phase grüßen. Aber das alles hat jetzt nicht nur Sinn und Zweck, sondern scheint im Gegensatz zum Debüt um eine fest verwurzelte Band-Identität zu kreisen. Das Ergebnis ist eine Platte, die sehr viel Freude macht und dank des fantastischen Zusammenspiels auch ein spektakuläres Live-Erlebnis verspricht.
Bonny Doon haben es nicht eilig: Die wundervoll vor sich hin schlurfenden Songs auf ihrem zweiten Album entstanden bereits vor zwei Jahren. Jetzt kommt das Material endlich heraus und beweist, dass die Jungs aus Michigan ein Händchen für großartige Roadtrip-Musik haben.
Erschienen am 23. März 2018 bei Woodsist
Wenn es um Musik in Michigan geht, denken viele erst mal an die Rapszene von Detroit. Dabei gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Bands, die ausgehend von kleineren Städten wie Benton Harbor zumindest im Rest der USA für Aufmerksamkeit sorgen. Eine davon ist Bonny Doon, die vor gerade ein mal einem Jahr mit einem nicht uninteressanten, aber etwas unfertigen Debüt-Album um die Ecke kam. Das Label Woodsist hat das außergewöhnliche Talent der Jungs anscheinend sofort erkannt und gehörig auf die Tube gedrückt, um die zweite Platte möglichst schnell hinterher zu schieben.
Schon nach den ersten Takten von Long Wave ist aber klar, dass die Band es überhaupt nicht eilig hat, schon gar nicht musikalisch betrachtet. Kein Wunder, denn die Songs entstanden bei einem total entspannten Bandurlaub am wunderschönen Mystic Lake. Das war bereits 2016, seither lag das Material auf Eis und wartete geduldig auf seine Veröffentlichung. Schade eigentlich, denn seither mussten schon eine ganze Menge Roadtrips ohne die perfekte musikalische Untermalung überstanden werden. Denn was hier auf Albumlänge in aller Ruhe ausgefahren wird, eignet sich wie kaum etwas anderes für eine ausgiebige Runde Halbschlaf auf dem Beifahrersitz. Und diese Qualität ist kein Zufall: Die durchaus lebendige Konversation zwischen den Gitarren verläuft in raumgreifenden Wiederholungszaklen und wird fast überall durch eine subtile Orgel oder ein leise singendes Pedal Steel grundiert, womit das Geschehen wie durch einen Sepiafilter verschleiert wird. Ein extrem kohärentes und stimmungsvolles Album, das am Ende mit der fragmentarischen Schlussnummer Walkdown förmlich in seine Einzelteile zerfällt.
Wie aus dem Nichts kam Henry Jamison 2016 mit ein paar einzelnen Songs um die Ecke. Gerade mal ein Jahr später bringt er als Debüt ein beeindruckendes Konzeptalbum, das an die amerikanische Tradition des musikalischen Storytellings anknüpft.
27.10.2017 – Akira Records
Henry Jamison ist jünger, als er aussieht. Die einzelnen Songs, die im Vorfeld seines Debütalbums erschienen sind, klingen in europäischen Ohren auch teilweise noch ein bisschen nach den Soundtracks von amerikanischen Teeniefilmen um die Jahrtausendwende. Das liegt natürlich vor allem daran, dass auch diese sich auf die amerikanische Tradition des Storytellings und einen folkigen Grundsound beziehen. Doch selbst bei der poppigsten Single fällt Jamisons einzigartige Gabe auf, Sprach- und Alltagsphänomene unserer Zeit in seine Texte einfließen zu lassen, ohne sich an den Zeitgeist anzubiedern. Er schildert Dinge wie die Einsamkeit im Licht der „Flatscreens“ in einer Sportsbar oder die Dramatik eines fast leeren Akkus mit der gleichen poetischen Intensität, mit der die Songwriter der 60er von Autos, Kühlschränken und dem Radio sangen.
Auf Albumlänge wird aber deutlich, dass Henry Jamison etwas viel größeres vorhat, als ein Update der Sprache, die in akustisch geprägter Popmusik Verwendung findet. Die Songs setzen sich nämlich wie die Kapitel eines Romans zu einer fortlaufenden Story zusammen, und nur die vermeintlich romantischen Momente werden mit einer wohldosierten Portion Americana-Kitsch bestrichen. Im Kontext von abgründigen Folkballaden und nostalgischem Countryrock wirkt das aber eher entlarvend als affirmativ. Wer den literarischen Aspekt von Popmusik zu schätzen weiß, findet hier ein überraschend ausgereiftes Gesamtkunstwerk, das aus einer zeitgemäßen Perspektive an Größen wie Bob Dylan, Leonard Cohen oder Paul Simon anknüpft.