Jetzt erst mal nach Hause, Kakao mit Bonusmaterial warm machen und ab auf die Couch. Die Blätter des Zitronenbaums vor dem Fenster wippen im Takt der Regentropfen, die Musik ist überall dazwischen. Du nimmst ein altes Buch vom Kaffeetisch, aber die Augen fallen immer wieder zu und du siehst nur noch blaue und gelbe Flecken. Na gut, dann halt einfach träumen. Von einer komplett grünen Welt ohne Menschen, aber mit vielen schrägen Vögeln. Wo immer die Sonne scheint und es immer regnet, wo immer Tag ist und immer Nacht. Wo die Bäume heimlich singen und tanzen, wo die Bäche aus dem Tal hinauf in die Berge fließen.
Es ist lange her, dass wir uns getroffen haben. Beim letzten Mal war ich noch einigermaßen jung und du warst noch nicht wirklich alt. Wir waren auf einer Hausparty mit den coolsten Leuten der Stadt, es gab Drogen und die Zeit stand still. Und jetzt also hier, in dieser dunklen Kaschemme. Der Rauch ist so dick und beißend in den Augen, ich habe dich fast nicht erkannt mit deinen grauen Haaren und deiner Kapuze. Du lehnst dich müde auf die Theke und erzählst mir, wo du überall herumgekommen bist in den ganzen Jahren. Wie du die ganze Welt auf den Kopf stellen wolltest und wie es sich anfühlte, all deine Träume nacheinander leise platzen zu sehen wie Seifenblasen im Regen. Jetzt ist alles vorbei und was uns bleibt, sind die langsam verblassenden Erinnerungen. Mach’s gut, hat mich gefreut dich mal wieder zu sehen.
Ein längst überfälliges Debüt: Im biblischen Alter von 41 Jahren veröffentlicht Jeremy Ivey seine erste Platte und wirft damit vor allem die Frage auf, warum er uns seine Songs so lange vorenthalten musste.
Anti-Records / 13. September 2019
Ein Neuling im Musik-Business ist Jeremy Ivey keineswegs: Seine Ehefrau Margo Price ist eine der berühmtesten Countrysängerinnen überhaupt und als ihr Haus- und Hofgitarrist und gefragter Session-Musiker hat er sich fest in Nashville etabliert. In den vergangenen Jahren trat er der Karriere seiner Frau zuliebe etwas kürzer und kümmerte sich oft um die gemeinsamen Kinder. Nun nimmt sie sich eine Auszeit vom anstrengenden Showbiz und ermöglicht damit ihrem Mann, aus ihrem langen Schatten herauszutreten und zum ersten Mal an vorderster Front im Rampenlicht zu stehen.
Ganz unbeteiligt ist Margo Price am Erfolg seines Debüts jedoch nicht, denn als Produzentin hat sie im Studio nicht nur die musikalische Leitung übernommen, sondern auch einige herzerwärmende Backing Vocals eingesungen. Und dennoch sorgen das grandiose Songwriting und die feurige Performance von Jeremy Ivey für den größten Aha-Effekt dieser Platte. Atmosphärisch irgendwo zwischen dem Soundtrack zu einem melancholischen Spaghetti-Western und großformatigem Stadionrock à la Springsteen angesiedelt, zoomen Iveys Songs ganz nah ran an die Gesichter seiner mit wenigen Worten sehr facettenreich modellierten Protagonisten. Ein Album, dessen Material zweifelsfrei über viele Jahre hinweg immer weiter verfeinert wurde und nun zu dem Besten gehört, was das Genre in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
In blauen Wolken wunderbar geborgen: Yves Jarvis wirft mit seinem zweiten Album den letzten Rest Songstruktur über Bord und nimmt Kurs auf ein unentdecktes Land jenseits des Ozeans namens Psychedelic Soul.
Erschienen am 1. März 2019 bei Anti-Records
Text: Tobias Breier
Yves Jarvis wurde 1996 in Calgary als Jean-Sebastian Audet geboren und sorgte schon als Zwanzigjähriger unter dem Pseudonym Un Blonde mit einem erstaunlichen Debüt-Album für Aufsehen. Damals widmete er die Platte der Farbe Gelb und damit der Sonne. Auch wenn die Tracks kaum unterschiedlicher sein könnten, so hatten sie doch diesen sommerlichen Charakter als gemeinsamen Nenner. The Same But By Different Means ist nun der Farbe Blau gewidmet und damit der Nacht, dem Nebel, dem Zwielicht und vor allem dem Blues. Und erneut weigert sich Yves Jarvis standhaft, klassischen Songstrukturen zu entsprechen. Auch wenn er nun zwei bis drei mal ganz knapp daran vorbeischlittert.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Dabei scheint Yves Jarvis ein Händchen für große Pop-Momente zu haben: Sobald etwas greifbares aus dem Tohuwabohu herausragt, geht es sofort in Richtung Ohrwurm. Aber auch die sphärischen Tracks, die teilweise aus nicht viel mehr als Vogelgezwitscher und einer verhallten Mundarmonika oder gospelhafte Stimmen im Hintergrund bestehen, haben einiges zu bieten. Die Höhepunkte sind aber eindeutig die Stellen, bei denen sich das Ganze in hemmungslosen Grooves entläd. Dann klingt Yves Jarvis wie eine zeitgemäße Wiedergeburt des großen Shuggie Otis, der Anfang der Siebziger mit unterbelichteten Drumcomputern, vom Winde verwehten Gitarrensoli und seiner schwerelosen Stimme die Grundlage für den Boom psychedelischer Soulmusik legte. Insgesamt gelingt ihm hier ein herausragendes Album, das mit jedem Hören an Struktur und Bedeutung gewinnt.