Gestern Abend habe ich beim Fischen im Bayou einen Alligator erspäht. Er lag ganz ruhig unter einem Mangrovenbaum, ungefähr sechzig Fuß entfernt. Ich wusste zuerst nicht, ob er tot war oder schlief, aber dann blinzelte er plötzlich und sah mir direkt in die Augen. Ganz langsam packte ich mein Angelzeug zusammen und lief rückwärts, Schritt für Schritt umkurvte ich die Tümpel. Als der Boden fester wurde, rannte ich los. An den Hütten vorbei bis zur Flussmündung, wo mein Freund George mit seiner Familie in einem Haus mit Anlegestelle lebt. Niemand war da, also nahm ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank auf der Terrasse und setzte mich ganz vorne auf den Steg. Die Sonne stand schon sehr tief und es war fast windstill, der Rauch meiner Zigarette stieg nach oben wie aus einem Schornstein. Ich nahm meinen Rucksack und kramte in den Taschen, bis ich etwas kühles, metallisches fühlte: Meine alte Mundharmonika.
Ein Meer aus verschwimmenden Akkorden: Obwohl die Jungs von Credit Electric in den urbanen Landschaften der Bay Area leben, suchen sie auf ihrem Debüt klanglich eher nach den unendlichen Weiten der Prärie.
Erschienen am 22. November 2019 / Kein Label
Wenn du allergisch auf Country reagierst und dir schon beim ersten cremig verschmierten Ton des Pedal Steels der Champagner hochkommt, bist du bei dieser Platte leider falsch. Hier werden so ziemlich alle verfügbaren Techniken angewandt, um die schwingenden Saiten des Rhythmusinstruments Gitarre und anderer Zupfinstrumente wie die Farben eines Aquarells verschwimmen zu lassen. Und wenn die theatralische Performance von Sänger Ryan LoPilato einsetzt, hast du gleich die nächste Hürde vor dir. Dieser Typ verlangt seinem Organ mit zweihundert Prozent Pathos Kapriolen ab, die sich andere nie trauen würden.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Du siehst ihn vor dir, wie er sich mit geschlossenen an seine Gitarre klammert und seinen Kopf bei höheren Tönen mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Mikrofon wegbewegt. Denn Gesang ist oft eine krasse Willensleistung und dementsprechend viel Herzblut fließt durch die Stimmbänder, was nicht jedermanns Sache ist. Doch wenn du jetzt noch dabei bist, hast du vielleicht wie ich schon eine der spannendsten Entdeckungen des Jahres gemacht. Die Musik von Credit Electric transzendiert ihre vermeintlichen stilistischen Limitationen und schwebt in einer anderen Sphäre als die Elemente, aus denen sie zu bestehen scheint. Das Zusammenspiel ist magisch, die Songs sind entschlossen formuliert und in der Gesamtatmosphäre kannst du dich für eine halbe Stunde einfach mal komplett verlieren. Und wenn der letzte Akkord verklungen ist wachst du plötzlich irgendwo in der grauen Realität auf und es besteht die reale Gefahr, dass du den ganzen Tag nichts anderes mehr hören willst.
Bob Dylan ist tot – es lebe Bob Dylan: Mit Nashville Skyline entzog sich der US-amerikanische Ausnahmekünstler am 9. April 1969 erneut dem erdrückenden Klammergriff von Fans und Industrie. Doch was damals auf harsche Ablehnung stieß, gilt heute als verkannter Klassiker. Über das Album als musikalische Selbstverteidigung.
Mit 50 Jahren gewinnt der Blick zurück an Klarheit. Das gilt im Leben ebenso wie in der Popmusik. Was bleibt übrig, wenn Hypes und Zeitgeist sich verabschiedet haben? In unserer Serie „Fünfziger“ geht es deshalb um Platten, die vor genau einem halben Jahrhundert ihren Fußabdruck in der Musikgeschichte hinterlassen haben. Heute: Bob Dylan und der sanfte Widerstand.
Bob Dylan ist tot – es lebe Bob Dylan: Mit Nashville Skyline entzog sich der US-amerikanische Ausnahmekünstler am 9. April 1969 erneut dem erdrückenden Klammergriff von Fans und Industrie. Während seine ehemaligen Wegbegleiter immer tiefer ins psychedelische Nirwana abdrifteten, sang der Hoffnungsträger einer ganzen Generation mit breitem Grinsen simple Country-Songs. Selten zuvor hatte ein Prophet seinen Anhängern so deutlich die Tür seines Tempels vor der Nase zugeknallt.Doch was damals auf harsche Ablehnung stieß, gilt heute als verkannter Klassiker. Über das Album als musikalische Selbstverteidigung.
Es hätte nicht viel gefehlt, und der 29. Juni 1966 wäre als einer der schwärzesten Tage in die Geschichte der Rockmusik eingegangen. Es ist ein sonniger Tag, als ein Motorrad der Herstellers Triumph auf einer abgelegenen Straße in den Hügeln von Woodstock (NY) aus einer Kurve geschleudert wird. Was den Crash aus den Meldungsspalten der Lokalpresse in die landesweiten Nachrichten bringt: Der Fahrer ist der damals 25-jährige Bob Dylan – Symbol, ja Prophet einer ganzen Generation.
Er überlebt, doch danach wird der Sänger nie wieder derjenige sein, den seine Fans bis dahin in ihm zu sehen gehofft hatten.
Man kann weder Dylans schillernde Biografie noch das drei Jahre später erschienene Nashville Skyline ohne die Ereignisse dieses Junitages verstehen. Viel ist später darüber spekuliert worden, die Gerüchteküche brodelte schon damals munter. Und erst rund ein Jahr später setzte seine erste Wortmeldung in Form eines Interviews den Sorgen seiner Fans ein Ende, Dylan sei überhaupt nicht mehr am Leben. Auch heute gilt noch: Wie so manches aus dem Leben des Jungen aus Minnesota umgibt auch den Unfall weiterhin eine Aura des Semifaktischen und Mystifizierten.
Was aber bleibt, ist das perfekte Symbol einer radikalen Zäsur. Dylan hatte sie zu dieser Zeit bitter nötig. Im Mai ’66 war Blonde on Blonde, das dritte Album seiner „elektrischen Trilogie“ mit dem Superhit Like a rolling stone erschienen. Es war die Krönung eines atemberaubenden Aufstiegs: Innerhalb weniger Jahre war der Sänger vom schüchternen Landei in den Folk-Cafés von Greenwich Village zu einer Ikone der Gegenbewegung geworden. Inbegriff der Coolness, Heilsbringer einer aufbegehrenden jungen Generation. Was Dylan sagte, galt als ultimative Wahrheit, seine Jünger hingen gierig an seinen Lippen und vielen Beobachtern schien er bereits mehr Symbol denn Mensch zu sein.
Aber Dylan war am Ende. Erdrückt von der eigenen Größe und der gnadenlosen Verwertungsmaschinerie einer aufstrebenden und hungrigen Musikindustrie. Die endlosen Konzerte, der Erwartungsdruck und die Drogen setzten ihm zu. Im Sommer ‘66 ähnelte der Sänger einer tragischen Karikatur seiner selbst: die Wangen waren eingefallen, die Augen leer, seine Interviews schwankten in einer Mischung aus zynischer Resignation und bloßer Erschöpfung zwischen pointierten Slogans und absurdem Nonsense. In den Tagen vor dem Unfall soll Dylan drei Tage lang nicht geschlafen haben. „Ich habe schon mehr als ein 55 Jahre alter Mann hinter mir“, stöhnte er.
Der Unfall bot ihm also endlich Möglichkeit des Rückzugs. Dylan zog sich in sein Haus in Woodstock zurück, widmete sich seiner jungen Familie und der Malerei. Ab und zu kamen die Musiker der Hawks für ein paar lockere Sessions vorbei – seine Begleitband, die später zu The Band werden sollte. Einem Reporter erzählte er: „Ich habe viel darüber nachgedacht, wohin ich eigentlich will, wovor ich davonlaufe und was ich zu mir nehme.“
Wohlkalkulierte Worte eines genialen Selbstdarstellers – oder überraschend ehrliche Sätze aus dem Mund eines geläuterten Mannes?
Wie auch immer, die Veröffentlichung von John Wesley Harding im Dezember 1967 war dann jedenfalls so etwas wie der Auftakt zur Enthüllung eines einmal mehr rundum erneuerten Dylan. Mit Nashville Skyline sollte sich diese Wandlung dann endgültig vollziehen.
Zeitgeist vs. Verweigerungshaltung 1967/68: Bob Dylans John Wesley Harding (r.) im Vergleich mit Plattencover der Beatles, The Incredible String Band und Jimi Hendrix.
John Wesley Harding nimmt bereits einiges vorweg, was auf Nashville Skyline zum endgültigen und vernichtenden Angriff auf die Erwartungshaltungen werden sollte. Der Schockeffekt begann schon im Plattenladen: Während die Rockbands der 60er am Ende des Jahrzehnts immer bunter und psychedelischer wurden, wirkte Dylans Cover in seiner verblichenen und kruden Optik fast wie Hohn. Hier wollte jemand ganz eindeutig nichts mehr mit einer Ästhetik zu tun haben, die er selbst entscheidend geprägt hatte.
Auch inhaltlich schien Dylan auf den minimalen Effekt setzen zu wollen. Der für damalige Verhältnisse fast apokalyptische Soundwall, den die Hawks noch auf den drei vorhergehenden Scheiben (Bringin‘ it all back home, Highway 61 Revisited, Blonde on Blonde) inszeniert hatten, wich jetzt einem dünnen und klapprigen Gerüst, auf dem der Sänger biblische Geschichten in einer für ihn völlig ungewohnten Eindeutigkeit verkündete. Von Rock – geschweige denn von Folk – war nicht mehr viel übrig. Stattdessen kam Dylan mit Country und Western um die Ecke.
So langsam begannen die Fans unruhig zu werden.
Der Knall kam dann aber erst mit der folgenden Platte. Noch nie hatte ein Prophet seinen Anhängern so deutlich die Tür seines Tempels vor der Nase zugeknallt. „Dylan ist zuerst Geschäftsmann und zuletzt Prophet“, schrieb der Kritiker der New York Times spürbar angefressen. „Jetzt grinst er uns frech und fett vom Albumcover entgegen. Nur er, seine Gitarre und das Logo von Columbia Records, als wollten sie sagen ‚Howdy, Leute. Wollt ihr ein paar nette Songs kaufen, zu denen man den Takt mitklopfen kann?‘“
Was war passiert? Zum einen präsentiert sich Dylan auf Nashville Skyline so eindeutig und offen wie nie zuvor. Hier gibt keine einäugigen Zwerge mehr, keine atemlos-kunstvoll herausgeballerten Wortsalven, keine beißende Kritik an Wirtschaftsbossen und auch keine kryptischen Referenzen an französische Dichter des 19. Jahrhunderts. Stattdessen freimütige Liebesschwüre und authentische Reuebekundungen. Schon das war vielen eingefleischten Fans, denen Dylans nebulöse Poetik immer auch zur eigenen Identitätsstiftung gedient hatten, kaum zuzumuten.
Zum anderen wirkte Dylans neue Liebe für den als reaktionäre Musik der Südstaaten geschmähten Country wie ein besonders dreister Verrat. Ein Verrat an den Idealen der linken Protestbewegung, die viele Fans der ersten Stunde eng mit ihm verbanden und die er ja durchaus in vielen Songs auch unmissverständlich vertreten hatte. Viele junge Menschen fühlten sich so auch persönlich von ihm hintergangen.
Verziehen haben das manche ihrem ehemaligen Idol bis heute nicht. Dabei lohnt es sich auch für die Kritiker, Nashville Skyline mit einem Satz frischer Ohren zu hören. Denn trotz der bewussten Verweigerungshaltung, die Dylan zweifellos in dieser Phase in sich trug, spricht aus den Songs dieses Album vor allem eine große Aufrichtigkeit. Versteckte sich der Dylan der„elektrischen Phase“ hinter beißendem Spott, ironischer Brechung und bellenden Slogans, kann man auf Nashville Skyline einen Künstler erleben, der sein Herz tatsächlich auf der Zunge trägt.
Mit Lay Lady Lay, I threw it all away, und Tell me that it isn’t true vereint dieser verkannte Klassiker zudem drei der wohl berührendsten und aufrichtigsten Songs der Dylan-Diskographie. Nicht zuletzt wegen dieser Nummern gibt es Kritiker, die behaupten auf diesem Album könne man dem Menschen hinter der Kunstfigur Bob Dylan am nächsten kommen.
Schon zu Beginn überrascht Dylan. Denn zum einen hat er sich als Opener keinen frischen Song, sondern die Neuauflage von Girl from the North Country ausgesucht, das zuerst auf seinem zweiten Album The freewheelin‘ Bob Dylan (1963) erschienen war. Und zum anderen taucht da plötzlich dieser schwere Bariton auf, den man auf einem Dylan-Album ja nun wirklich nie vermutet hätte: Johnny Cash gibt sich die Ehre als Duett-Partner.
Aber Dylan wäre nicht Dylan, hätte er sich nicht noch mehr einfallen lassen. Und so kommt es, dass böse Zungen gerne behaupten, auf Nashville Skyline habe der dünne Junge endlich singen gelernt. Als hätte er die sprichwörtliche Kreide gegessen, croont der vormals so kratzbürstige Sänger sanft und beschwingt auf dieser Platte – die Entscheidung, ob er sich deswegen hier aber auch als Wolf im Schafspelz inszeniert, bleibt jedem Hörer selbst überlassen.
Aus heutiger Sicht ist die Platte vor allem der Soundtrack einer Zäsur, die eine dritte Schaffensphase des Songwriters einläutete. Nachdem er 1965 bereits versucht hatte, mit der elektrischen Gitarre den von ihm verhassten Begriff des „Protestsängers“ endlich und endgültig zu massakrieren, folgte nun also mit Nashville Skyline der sanfte Widerstand.
Nach einem vielversprechenden Debüt liefert Molly Burch ihr Meisterstück ab: First Flower ist zurecht auf gefühlt jeder Jahresbestenliste vertreten.
Erschienen am 5. Oktober 2018 auf Captured Tracks
Text: Samira Wacker
2018 war ein gutes Jahr für weibliche Künstlerinnen: Da wäre einmal das grandiose Comeback von Robyn, die uns nach 8 Jahren quasi aus dem Nichts „Honey“ um die Ohren haut, Hinds, die sich nach dem diesjährigen Dockville Festival endgültig in mein Herz gespielt haben und schlussendlich Cardi B, die uns mit ihrer Erfolgsstory zeigt, dass es doch noch Märchen gibt. Auch wenn sie 2018 im Stripclub und nicht hinter den sieben Bergen beginnen. Bei der Auswahl an starken Alben möchte ich euch aber eine Künstlerin empfehlen, die dieses Jahr leiser, aber nicht weniger bestimmt, verzaubert hat – Molly Burch. Die 27-Jährige wuchs in der Schauspielszene LAs auf, entschied bewusst gegen den Trubel der City of Angels und zog nach North Carolina, um dort Jazzgesang zu studieren. Ihre Labelheimat hat sie bei Captured Tracks gefunden. Nach einem vielgelobten Debüt, indem sie vorrangig eine gescheiterte Liebesbeziehung verarbeitete, erschien im Herbst nun das schwierige zweite Album. Die instrumentale Ummantelung auf „First Flower“ ist warm, kleinteilig und trotzdem zurückgenommen genug, um dem Gesang genug Freiraum zu geben. Der Sound erinnert an verträumte 60s-Balladen, aber auch Einflüsse von Gesangsgrößen wie Nina Simone, die Burch als große Inspiration nennt, kann man heraushören. Stimmlich verfügt Molly über eine große Bandbreite, was sicher auf ihre professionelle Ausbildung zurückzuführen ist. Der Gesang wirkt stellenweise brüchig und weich, in anderen Momenten der Platte stark und bestimmt. Die ganz eigene Art, Worte wie Kaugummi langzuziehen, um sie danach abrupt abzusägen, ist beeindruckend. Mit den Worten „Why do I care what u think? You‘re not my father.“ beginnt das Album sofort mit einem Highlight. „Candy“ ist die bittersüße, tanzbare Abrechnung mit einer toxischen Beziehung.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Während Songs wie „Without You“ und „Dangerous Place“ sich, wie bereits auf ihrem Debüt, mit gescheiterter Liebe auseinandersetzen, überzeugt „First Flower“ mit einer thematisch größeren Bandbreite. Besonders hervorzuheben ist hier „To The Boys“, der mit seiner sanften aber bestimmten Fuck-You-Attitüde begeistert. “I don’t need to scream to get my point across/I don’t need to yell to know that I’m the boss.” – Zeilen wie diese zeigen, dass sich Molly Burch während der Arbeit an „First Flower“ mit den eigenen Ängsten auseinandergesetzt und Friede mit ihren vermeintlichen Schwächen geschlossen hat. Diese emotionale Transparenz ist, was „First Flower“ als Album dieses Jahr so besonders macht – ein 11-Track-starkes Loblied auf die Softness. Während das Debüt konsequent von Herzschmerz durchzogen war, gibt es auf dem Nachfolger mit „Candy“, „Wild“ und „To The Boys“ auch Momente des Triumphes, eine Feier der eigenen Imperfektion. Gesangliche Finesse gekoppelt mit der verträumten musikalischen Ummantelung überzeugen im Zusammenspiel. „First Flower“ hinterlässt ein warmes und zufriedenes Gefühl, macht Lust aufs Verlieben und überzeugt auf Platte genauso wie live.
Während ihrer Jugend im mittleren Westen hatte Anna St. Louis in wütenden Punkbands gespielt. Nach einem Umzug nach LA entdeckte sie aber im Umfeld des Labels Woodsist ihre Liebe zum Folk wieder.
Erschienen am 12. Oktober 2018 auf Woodsist
Schon 2015 nahm Anna St. Louis zuhause ein Demotape auf, dessen Material im Kern fast identisch mit dem nun erschienenen Debütalbum ist. Produzent Kevin Morby hat aber offensichtlich ein gutes Händchen, den Charme einer solchen Aufnahme im Kontext einer professionellen Produktion im Studio zu konservieren. Das erreicht er vor allem durch eine eiserne Disziplin bei der Aufnahmelautstärke: Häufig singt Anna St. Louis im untersten Bereich ihrer dynamischen Reichweite, aber dann muss eben einfach das Mikrofon näher ran und Nebengeräusche wie der Atem werden eingefangen wie durch einen akustischen Zoom. Wo Instrumente die Zimmerlautstärke überschreiten, scheinen sie dagegen fast im Nebenraum zu stehen. Das erzeugt Intimität und eine heimelige Atmosphäre, auch in den lauteren Nummern mit extra Gitarre und Schlagzeug.
Das Musikvideo zur Single „Understand“ auf Youtube:
Auf Albumlänge stellt sich heraus, dass Anna St. Louis mit Hits wie Understand ziemlich knauserig ist. Der in diesem Metier durchaus übliche Kracher aus der Schublade Folk-Rock ist ihre Sache nicht. Es sind eher die leisen und ganz leisen Töne, die ihre Qualitäten als Sängerin und Songwriterin sichtbar machen. Die gewohnten Fahrwasser des Indie Folk verlässt sie zugunsten minimalistischer Exkursionen in das weitestgehend unentdeckte Land zwischen Blues, Country und der traditionellen Musik nordamerikanischer Ureinwohner. Das erinnert natürlich an Buffy Sainte-Marie, die vor etwa einem halben Jahrhundert Erkundungen in die Musik ihrer Vorfahren anstellte und so zu ihrem unverkennbaren Stil fand. Soweit ist Anna St. Louis auf ihrem Debüt noch nicht, aber es ist auch deutlich mehr als nur ein vielversprechender Anfang.
Bobbie Gentry hatte Ende der Sechziger Jahre kurzzeitig enormen Erfolg mit ihrer Mischung aus Country und Blues. Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen ihres berühmtesten Albums ist es an der Zeit, diese unglaublich atmosphärischen Songs voller Südstaatenflair endlich wiederzuentdecken.
VÖ: September 1967 auf EMI
Referenzen: Joan Baez, Bedouine, Janis Joplin
Stichworte: Abends / Herbstwetter / Wein / Zu zweit
Vor 50 Jahren erfolgte durch eine Revolution in der Aufnahmetechnik ein gewaltiger Kreativitätsschub in der Popmusik. Bands wie die Beach Boys oder die Beatles fingen an, Songs im Studio Spur für Spur zusammenzubasteln. So entstanden surrealistische Kunstwerke wie die Alben “Pet Sounds” oder “Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band”. Letzteres wurde in den USA im Herbst 1967 als Nummer eins der Album-Charts von Bobbie Gentry abgelöst, einer jungen Sängerin aus den Südstaaten, die “schwarzen” Soul und “weißen” Country verband.
Da Bobbie Gentry wenige Jahre später überraschend ihre Karriere beendete und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, ist sie heute weitestgehend in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist der 50. Geburtstag ihrer erfolgreichsten Platte ja ein erster Anstoß zur Wiederentdeckung dieser beeindruckenden Sängerin. In einer Zeit, als Frauen zumindest als Songwriterinnen noch die absolute Ausnahme waren, nimmt sie selbstbewusst in der riesigen Lücke zwischen dem aristokratischen Folk einer Joan Baez und dem eruptiven Blues von Janis Joplin Platz.
Als The Deslondes 2015 ihr erstes Album veröffentlichten, hatten die Mitglieder sowohl musikalisch als auch menschlich schon einiges erlebt. Das Ergebnis sind handwerklich beeindruckende Songs zwischen Country und Soul, die aus dem tiefsten Inneren der Musiker und des ländlichen Amerikas kommen.
VÖ: 9.6.2015 auf New West Klingt fast ein bisschen wie: Hank Williams, The Gourds, Huey Smith Passt gut zu: Lampions, Grillparty, Bourbon
New Orleans ist nicht gerade als Country-Mekka bekannt. Solche Verallgemeinerungen sind aber immer mit Vorsicht zu genießen, denn erstens haben Leute wie Huey „Piano“ Smith in der Stadt schon immer „weiße“ und „schwarze“ Musik vermischt. Und zweitens soll es ja auch Dönerläden geben, die eine ganz anständige Pizza machen. In der heruntergekommenen Deslonde Street haben sich jedenfalls ein paar echte Nerds zusammengefunden, die bislang mit soliden, aber weitgehend erfolglosen Projekten wie The Tumbleweeds ihre Lehrjahre verbracht haben. Dabei haben sie offensichtlich alle wahnsinnig viel Musik gehört und gemacht, denn ihr Debüt in der neuen Konstellation klingt, als hätten sich die fünf seit den 50ern als Straßenmusikanten durchgeschlagen und dabei nicht nur ganz viel Staub gefressen und Scheiße erlebt, sondern auch alle Spielweisen zwischen Roots Soul und Nashville Country von der Pike auf gelernt, umgerührt und in einen unverkennbar eigenen Bandsound gegossen. Ein Album wie eine enzyklopädische Abhandlung über die unendlichen Weiten der Musik des ländlichen Amerikas, über alle vermeintlichen ethnischen oder stilistischen Barrieren hinweg.
Das zweite Album „Hurry Home“ erscheint am 23.6.2017 auf New West!
VÖ: 21.4.2017 auf Gnomosong Klingt fast ein bisschen wie: Kodiak Deathbeds, Joan Shelley, Sandy Denny Passt gut zu: Abendlicht, Kopfhörer, Rotwein
Tara Jane O’Neil hat auf unglaublich vielen Alben von großen Namen wie Wilco oder Devendra Banhart mitgewirkt, ist aber als Solokünstlerin nie über den Achtungserfolg des 2006 erschienenen In Circles hinausgekommen. Kein Wunder, denn ihre Musik war stets zu leise und zu zart, um wirklich aufzufallen. Auf ihrer selbstbetitelten neuen Platte macht sie aus dieser vermeintlichen Schwäche endlich eine Stärke, indem sie noch mal ein paar Gänge zurückschaltet. Wer sich auf den minimalistischen Sound einlässt, entdeckt eine enorme Dynamik zwischen leisen und ganz leisen Töne und vor allem wundervoll zerbrechliche Songs, die uns Tara verschwörerisch ins Ohr flüstert. Ein Album, das man fast nur bei absoluter Ruhe angemessen wahrnehmen kann und das mit jedem Hören an Tiefe und Weite gewinnt.
VÖ: 10.3.2017 auf Concord Klingt fast ein bisschen wie: Margo Price, Alabama Shakes, Rolling Stones (Sticky Fingers) Passt gut zu: Schaukelstuhl, Veranda, Eistee
Manchmal kann ein erfolgreiches und von den Kritikern hochgelobtes Debütalbum auch eine schwere Bürde sein. 2013 kam Valerie June aus dem Nichts mit Pushin‘ against a Stone um die Ecke und gewann damit nicht nur so ziemlich jeden Newcomer-Preis unterhalb des Grammys, sondern auch sehr viele Herzen, aber dann wurde es lange still um die gefeierte Newcomerin. Nun gibt es endlich das zweite Album der jungen Frau aus Tennessee, und auch dieses ist ein fantastisches Panoptikum der nordamerikanischen Volksmusik, wie es eigentlich nur in Memphis entstehen kann. Nicht zufällig hat Elvis dort, an der Schnittstelle des amerikanischen Heartlands, mit Zutaten aus den Appalachen, den Südstaaten und den Ebenen des mittleren Westens die Urformel der Popmusik gepanscht, die bis heute Bestand hat.
Valerie June sucht aber nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern das große Ganze in seiner unüberschaubaren Vielfalt. Sogar die Wurzeln der einzelnen Musikströme in afrikanischen, europäischen und uramerikanischen Traditionen bahnen sich hier und da ihren Weg ans Tageslicht, und Valerie schafft es mit ihrem enigmatischen Gesang, allen eine Stimme zu geben. Ein Album, so unfassbar weit und schrecklich schön wie die Prärie.
VÖ: 10.3.2017 auf More Alarming Klingt fast ein bisschen wie: Beth Gibbons, Sufjan Stevens, Nick Drake
Nachdem Laura Marling auf Short Movie erste Gehversuche als Produzentin unternahm, geht sie auf ihrem mittlerweile sechsten Album noch ein paar Schritte weiter. Semper Femina ist ein klassisches Konzeptalbum, das vor allem von Beziehungen zwischen Frauen handelt und ganz unterschiedliche Geschichten erzählt. Und obwohl sich Laura hier und da immer noch allein mit der Akustikgitarre begleitet, werden fast alle Songs spezifisch instrumentiert und stilistisch zugespitzt. Von zuckersüßen, minimalistischen Folkballaden über rollende Countrysongs bis hin zu jazzigen Grooves ist alles möglich und mehr oder weniger durchschaubar auf die Inhalte abgestimmt.
Einerseits ist es faszinierend, wie mühelos sie in wenigen Jahren den langen Weg vom ferngesteuerten Myspace-Sternchen zur autonom agierenden Popkünstlerin zurückgelegt hat. Andererseits ist Laura Marling eine der wenigen, die theoretisch auf die ganze Produktionsmagie verzichten könnten und auf Albumlänge nur mit ihrer Stimme und ein paar Gitarrenakkorden zu überzeugen wissen. Dementsprechend werden sich die zahlreichen Puristen unter ihren Fans schwer tun und den ein oder anderen Song als überladen empfinden. Allerdings hat Laura Marling wie jede Künstlerin das Recht darauf, ihren künstlerischen Visionen unabhängig von äußeren Erwartungen nachzugehen. Das tut sie mit einem klaren Ziel, einem relevanten Thema, ganz viel Fingerspitzengefühl und einem Hauch Extravaganz, der aus einem ambitionierten Album ein bezauberndes macht.