Marla & David Celia – Indistinct Chatter (2021)

Der alte Mercedes schwebt über die Landstraße. Ich sitze auf der Rückbank, draußen ziehen Felder und Hügel vorbei. Marla fährt, David hat es sich auf dem Beifahrersitz mit der Gitarre gemütlich gemacht. Im Radio tuckert die Rhythmusmaschine einer Heimorgel, begleitet von leisem Synthie-Gezwitscher. Ich schließe die Augen und fahre durch eine heile Welt der Siebziger, die es nie gegeben hat. Die ich nie erlebt habe. Das Heute ist plötzlich weit weg, wie ein schemenhaftes Gebirge am Horizont. Wir rasen darauf zu, die Konturen werden schärfer und irgendwann werden wir ankommen. Aber noch ist Zeit, Zeit für ein paar Songs, Songs die uns einen Moment der Ruhe und des Durchatmens schenken.

Wir werden langsamer, die Harmonien sind verstummt und die letzten zarten Akkorde auf der Gitarre werden von den Motorengeräuschen verschluckt. Wir sind angekommen, jetzt müssen wir raus in die Kälte. Schwere Dinge schleppen, schaffen, Probleme lösen. Nicht zu viel und nicht zu wenig an die Zukunft denken, nicht zu kurz und nicht zu lange in Erinnerungen schwelgen. Let’s go.

Nebenan im Plattenregal:
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)
Fooks Nihil – Fooks Nihil (2020)
Lorain – Through Frames (2018)

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Fooks Nihil – Fooks Nihil (2020)

Folk Rock / Indie Folk / West Coast

Die Sonne brennt herunter auf die Weinreben, da hinten glitzert das Wasser. Das Verdeck ist offen, der Fahrtwind trägt die ersten Klänge zu uns herüber. Wir stellen den alten Saab am Ende einer langen Autoschlange neben der Landstraße ab und laufen auf dem Seitenstreifen in Richtung der wild auf einer Wiese verteilten Zelte. Auf der Bühne stehen drei Typen mit Schlaghosen, flatternden Hemden und lange Haaren: Schlagzeug, Bass, Gitarre und dreistimmiger Gesang. Auch mit offenen Augen sind wir in einem Film über die goldenen Jahre der Westküsten-Musikszene. Die Zeit scheint vor etwa 50 Jahren stehen geblieben zu sein, hier beim Festival in Hamm am Rhein.

Konzert-Tipp: Fooks Nihil & Dux Louie – Sa 26.09.20 im Karlstorbahnhof Heidelberg

Das war 2018 und seither hatten Fooks Nihil genügend Zeit, ihre live damals schon extrem mitreißende Nostalgienummer auf Platte zu bannen. Jetzt ist das Debüt-Album da und Fans der Musik von damals werden nicht enttäuscht. Kennt ihr das auch, wenn ihr in einem ranzigen Plattenladen in der allerletzten Ecke eine Scheibe von einer völlig unbekannten Folk-Rock-Band aus den Siebzigern für drei Euro findet und die ist dann auch noch geil? Genauso fühlt sich das Debüt von Fooks Nihil an, und das ist ein verdammt gutes Gefühl. Denn solche Zufallsfunde aus der Vergangenheit sind seltener geworden, die Zeit der großen Entdeckungen in der Grabbelkiste ist vorbei. Umso schöner, dass es immer mehr jungen Bands wie Fooks Nihil gelingt, dem Sound von damals mit individueller Note und ohne Retro-Klischees neues Leben einzuhauchen.

Nebenan im Plattenregal:
Bonny Light Horseman – Bonny Light Horseman (2020)
Mapache – From Liberty Street (2020)
Loving – If I Am Only My Thoughts (2020)

Daniel Romano – Finally Free (2018)

Folk Rock / Indie Rock / Indie Folk

Als es in den deutschen Großstädten noch nicht überall fließendes Wasser gab, gingen die Menschen regelmäßig in Badehäuser. Oft hatten diese keine Schwimmbecken, sondern nur Duschkabinen oder kleine Räume mit Badewannen. Dann traf man seine Nachbarn im Warteraum, lernte sich kennen und tauschte Neuigkeiten aus. Mit der Sanierungswelle in den Wirtschaftswunderjahren wurden flächendeckend Bäder in Privathäuser eingebaut, mit den nun obsoleten Badehäusern verschwand auch ihre Funktion als Ort der sozialen Begegnung. Nicht so in der Mannheimer Neckarstadt, wo die Menschen die Tradition des Badbesuchs bis in die Achtzigerjahre pflegten. Heute ist das Alte Volksbad in der Mittelstraße ein Kreativwirtschaftszentrum und im Keller gibt es eine sogenannte Geschichtswerkstatt, wo regelmäßig Veranstaltungen wie Flohmärkte und auch Konzerte stattfinden. Die ehemalige Kasse wird zur Bar umfunktioniert, es gibt gutes regionales Bier und die Stimmung ist aufgrund der Mischung von angereisten Musikfans und einem sehr begeisterungsfähigen Stammpublikum aus dem Viertel einzigartig. Nicht selten greift die Atmosphäre nach ein paar Songs auch auf die winzige Bühne über, ungläubige Blicke werden ausgetauscht, ein gewaltiger Ruck geht durch den Raum. Und irgendwann nach 10 Pils an einem Montagabend stehen alle mit selbstgedrehten Zigaretten auf der Straße und helfen, den Bandbus einzuladen.

Die oben beschriebenen Gegebenheiten im Alten Volksbad ließen sich auch bei Konzerten im Kontext der folgenden Alben beobachten:
Jess Williamson – Cosmic Wink (2018)
The 200s – Power Move (2019)
Daniel Romano – Modern Pressure (2017)

Wilco – Ode To Joy (2019)

Indie Rock / Folk Rock / Americana

Die Entzugsklinik war in einem der ärmeren Vororte von Chicago, die Gebäude waren aus rotem Backstein. Alle Wände und Kleider waren weiß, die Bäume und Wiesen leuchtend grün. Jeff hatte nach einem Monat Aufenthalt im geschlossenen Teil das Schlimmste überstanden und durfte in einen Übergangsbereich ziehen, wo die Überwachung etwas lockerer war. Ein Besucher brachte ihm eine Gitarre vorbei, aber es waren immer und überall andere Menschen um ihn herum. Am wenigsten war in der Waschküche los, also schlich er sich dort hinein und begann einen alten Song zu spielen. Seine Hände betasteten das Instrument zunächst wie einen fremden Gegenstand, aber nach kurzer Zeit war alles wie früher. Er sang leise vor sich hin und fühlte sich ungestört. Plötzlich bemerkte er den alten Mann, der die ganze Zeit in der Waschküche war. Er lächelte und sagte: „Mein Sohn, du hast wirklich Talent. Dir fehlt nur das Selbstvertrauen, aber du gehörst auf die Bühne.“

Nebenan im Plattenregal:
Cass McCombs – Tip of the Sphere (2019)
BNQT – Volume 1 (2017)
M. Ward – Migration Stories (2020)

Mapache – From Liberty Street (2020)

Indie Folk / Folk Rock / Cosmic American Music

Wir sind wie die Higuerilla, diese wilde Pflanze, die an den magersten und schroffsten Orten wurzelt und sich vermehrt. Schau mal, wie sie im Sand wächst, im ausgetrockneten Abwasserkanal, in der gerodeten Fläche neben der Müllkippe. Sie bittet um nichts von niemandem, alles was sie zum Überleben braucht, ist ein Stück Boden. Weder die Sonne im Himmel noch das Salz in der Erde, nicht mal der Sturm über dem Meer kann ihr was anhaben, geduldig lässt sie sich von den Menschen treten und von den Traktoren überrollen. Doch die Higuerilla wächst weiter, verbreitet sich, ernährt sich von Stein und Abfall. Dort, wo wir an der Küste diese Pflanze finden, dort lassen wir uns nieder und bauen unsere Hütte. Denn hier werden auch wir leben können.

Nebenan im Plattenregal:
Mapache – Mapache (2019)
Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)

Sam Doores – Sam Doores (2020)

Folk / Country / Cosmic American Music

Gestern Abend habe ich beim Fischen im Bayou einen Alligator erspäht. Er lag ganz ruhig unter einem Mangrovenbaum, ungefähr sechzig Fuß entfernt. Ich wusste zuerst nicht, ob er tot war oder schlief, aber dann blinzelte er plötzlich und sah mir direkt in die Augen. Ganz langsam packte ich mein Angelzeug zusammen und lief rückwärts, Schritt für Schritt umkurvte ich die Tümpel. Als der Boden fester wurde, rannte ich los. An den Hütten vorbei bis zur Flussmündung, wo mein Freund George mit seiner Familie in einem Haus mit Anlegestelle lebt. Niemand war da, also nahm ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank auf der Terrasse und setzte mich ganz vorne auf den Steg. Die Sonne stand schon sehr tief und es war fast windstill, der Rauch meiner Zigarette stieg nach oben wie aus einem Schornstein. Ich nahm meinen Rucksack und kramte in den Taschen, bis ich etwas kühles, metallisches fühlte: Meine alte Mundharmonika.

Nebenan im Plattenregal:
Anna St. Louis – If Only There Was A River (2018)
The Deslondes – The Deslondes (2015)
Bobbie Gentry – Ode to Billie Joe (1967)

M. Ward – Migration Stories (2020)

Singer/Songwriter / Americana / Folk Rock

Es ist lange her, dass wir uns getroffen haben. Beim letzten Mal war ich noch einigermaßen jung und du warst noch nicht wirklich alt. Wir waren auf einer Hausparty mit den coolsten Leuten der Stadt, es gab Drogen und die Zeit stand still. Und jetzt also hier, in dieser dunklen Kaschemme. Der Rauch ist so dick und beißend in den Augen, ich habe dich fast nicht erkannt mit deinen grauen Haaren und deiner Kapuze. Du lehnst dich müde auf die Theke und erzählst mir, wo du überall herumgekommen bist in den ganzen Jahren. Wie du die ganze Welt auf den Kopf stellen wolltest und wie es sich anfühlte, all deine Träume nacheinander leise platzen zu sehen wie Seifenblasen im Regen. Jetzt ist alles vorbei und was uns bleibt, sind die langsam verblassenden Erinnerungen. Mach’s gut, hat mich gefreut dich mal wieder zu sehen.

Nebenan im Plattenregal:
Simon Joyner – Pocket Moon (2019)
Living Hour – Softer Faces (2019)
Cass McCombs – Tip of the Sphere (2019)

Loving – If I Am Only My Thoughts (2020)

Indie Folk / Folk Rock / Soft Rock

Ein kalter Herbstabend im Nordosten von Paris, du bist der frühe Vogel in diesem riesigen alten Schlachthof. Bis jetzt ist nur der Seitenflügel geöffnet, doch der erste Song der ersten Band weht schon herüber in den Eingangsbereich. Die Foodtrucks duften nach Raclette, Dim Sum und Flammkuchen, doch die leise Musik saugt dich hinein in diesen kleinen Raum mit Bar und Bühne, dessen Fensterfront den Blick zum Kanal öffnet und den Schein der Straßenlaternen hineinlässt. Doch du schaust nur nach vorne: Geschlossene Augen hinter den Mikrofonen, Streicheleinheiten fürs Schlagzeug, flauschige Gitarrenteppiche, Gänsehaut, ungläubige Blicke. Wenn der Abend so weiter geht, sind die Freudentränen nur eine Frage der Zeit.

Nebenan im Plattenregal:
Whitney – Forever Turned Around (2019)
Outer Spaces – Gazing Globe (2019)
Buxton – Stay Out Late (2018)

Whitney – Forever Turned Around (2019)

Entspannt zuhause angekommen: Drei Jahre nach dem turbulenten Karrierestart mit dem gefeierten Debüt-Album richten sich die zwei Jungs aus Chicago in ihrer idyllischen Folk-Nische häuslich ein.

Secretly Canadian / 30. August 2019 / Text: Tobias Breier

Natürlich träumen die meisten Musikschaffenden davon, mit ihrem ersten Album gleich den großen Wurf zu landen. Für Whitney ist dieser Traum in Erfüllung gegangen, ihr Debüt Light Upon a Lake (2016) schlug gleichermaßen bei der Kritik und beim Publikum ein und bescherte den Jungs aus Chicago auf Anhieb eine ausverkaufte Welt-Tournee und den Sprung auf die größeren Bühnen von zahlreichen Festivals. Doch dann wurde es still um die Truppe, das zweite Album wurde erst angeteasert und dann immer wieder verschoben. Natürlich ist es nicht einfach, unter diesen Bedingungen sofort mit einem zweiten Album nachzulegen, zumal die Erwartungen erheblich gestiegen sind. Doch zwischenzeitlich liefen Whitney tatsächlich Gefahr, jedes Momentum zu verlieren und in Vergessenheit zu geraten.

Im August kam dann Forever Turned Around heraus, und die Reaktionen waren zunächst mal wenig euphorisch. Fast wirkte es auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium aus Songs, die für das Debüt nicht gut genug waren und nun aufgewärmt wurden. Doch gerade ein direkter Vergleich zeigt: Die musikalische Weiterentwicklung ist gigantisch, während der Charakter und die stilistische Identität erhalten geblieben ist. Whitney lebt im Speziellen davon, dass Julien Ehrlich gleichzeitig als Leadsänger den Ton angibt und am Schlagzeug die rhythmischen Akzente setzt. Dieser subtile, aber grundlegende Vorsprung in Sachen Dynamik liefert die Basis für die harmonische Zuckerwatte, die Gitarrist McMillen Kakacek mit seiner Bande aus Multi-Instrumentalisten anrührt. Pappsüß ist das zwar manchmal, aber niemals kitschig oder gar billig, dafür sind die Songs einfach zu elegant und detailverliebt. Unterm Strich ein adäquates zweites Album, das seinen teilweise übertrieben verehrten Vorgänger qualitativ eindeutig überragt und richtig Lust auf die nächste Tour macht.

https://open.spotify.com/album/2tEnM0jAnGCfNvrhVVVZ3h?si=EPClOu2OQZG_qSBNDVlNMA

Nebenan im Plattenregal:
Mapache – Mapache (2019)
Vetiver – Up on high (2019)
Big Search – Slow Fascination (2019)

Mapache – Mapache (2019)

Wie ein Kurztrip ins Kalifornien der frühen Siebziger: Mapache setzen voll auf sanft rollende Gitarren, mehrstimmigen Gesang und stimmungsvolle Westküsten-Nostalgie.

Yep Roc Records / 29. November 2019

Ursprünglich veröffentlichten Clay Finch und Sam Blasucci ihr gemeinsames Debüt-Album schon 2017 beim Kleinstlabel Spiritual Pajamas, das von Santa Cruz aus in unregelmäßigen Abständen verschiedene stilistische Schwerpunkte der kalifornischen Undergroundszene beleuchtet. Nun sind die beiden bei Yep Roc Records angekommen, wo in deutlich höherer Frequenz und größerer thematischer Schärfe gearbeitet wird. Da lag es nahe, die vor zwei Jahren etwas untergegangene Platte noch mal neu herauszubringen. Zumal sich die nostalgische Annäherung an den klassischen Westküstensound in der Zwischenzeit weit über die kalifornischen Landesgrenzen hinaus als Trend etablieren konnte.

Schon der Opener Mountain Song offenbart, dass die Besonderheiten von Mapache im fast telepathischen Zusammenspiel der beiden Skaterfreunde liegen. Es klingt, als würde jemand mit vier Händen auf einer Gitarre mit 12 Saiten spielen und dabei zweistimmig singen, ein mal mit einer jugendlich-androgynen Altstimme und gleichzeitig mit einer tieferen und gut abgehangenen Männerstimme. Ausgehend von dieser Basis deklinieren Mapache jeden Typus von Song durch, den man sich im Autoradio eines rostigen Pick-Ups auf dem Highway 1 vorstellen kann: Die melancholische Countryrock-Ballade à la Neil Young, psychedelisch ausufernde Gitarren-Jams in Anlehnung an Grateful Dead, rasante Nummern im Neo-Bluegrass-Stil von Dillard & Clark und alles dazwischen. Ein unterhaltsames Album mit hohem Nostalgie-Faktor, das seine mangelnde inhaltliche Tiefe mit beeindruckender Spielfreude mehr als wett macht.

Nebenan im Plattenregal:
Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Jeremy Ivey – The Dream and the Dreamer (2019)
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)