Luke Temple – Both-And (2019)

Die Gratwanderung zwischen den Metiers des Singer-Songwriters und des elektronischen Bastlers geht oft in die Hose. Luke Temple zeigt, wie es richtig gemacht wird: Auf die gute Idee vertrauen und immer alle Optionen offen halten.

Native Cat Recordings / 13.09.2019

Als Sänger von Here We Go Magic, gefragter Produzent und Herr über zahlreiche schräge Nebenprodukte wie ein fantastisches Album unter dem Pseudonym Art Feynman ist Luke Temple ein viel beschäftigter Mann. Seine größte Leistung ist vermutlich, bei den ganzen Projekten den Überblick zu behalten und die verschiedenen musikalischen Identitäten glaubwürdig zu verkörpern. Doch veröffentlicht er Platten unter dem Künstlernamen Luke Temple, ist er einerseits ganz er selbst und schöpft andererseits großzügig aus allen in der Zwischenzeit kultivierten Klangwelten.

Tatsächlich hat mich das Album zunächst ziemlich ratlos zurück gelassen. Die Aneinanderreihung von elektronischen Sphärenklängen und akustisch geprägten Songstrukturen schien keinen wirklichen Sinn zu ergeben. Der Schlüssel zu diesem Album war schließlich Wounded Brightness, das die Assoziationskette zwischen den Gitarrenakkorden und Synthesizerflächen exemplarisch offen legt. Ganz davon abgesehen ist es natürlich auch ein fantastischer Song, aber längst nicht der einzige auf der Platte. Ich höre Both-And ganz gerne spät abends, wenn ich nichts mehr zu erledigen habe. Der Wechsel zwischen Melodien und abstrakten Klangbildern wirkt auf mich wie das sanfte Schaukeln eines Schiffes und lässt mich in kurzer Zeit zur Ruhe kommen.


Nebenan im Plattenregal:
Chris Cohen – Chris Cohen (2019)
Yves Jarvis – The Same But By Different Means (2019)
Art Feynman – Blast Off Through The Wicker (2017)

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Pavo Pavo – Mystery Hour (2019)

Auf Synthie-Wellen durch den Weltraum reiten: Eliza Bagg und Oliver Hill überwinden auf dem zweiten Album nicht nur ihre private Trennung, sondern auch die Schwerkraft der musikalischen Konventionen.

Erschienen am 24. Januar 2019 bei Bella Union

Nach ihrem Debüt im Jahr 2016 gab es bei Pavo Pavo bereits Auflösungstendenzen. Übrig geblieben sind Eliza Bagg und Oliver Hill, damals auch privat ein Duo. Obwohl das zweite Album Mystery Hour von der Trennung der beiden begleitet wurde, stimmt die Chemie musikalisch bis ins letzte Detail. Wie schon mit ihrem Vorgängerprojekt Plume Giant und auf dem ersten Album schlagen sie mit großer Überzeugung und viel Liebe zum Detail einen retro-futuristischen Kurs ein, der irgendwo bei den Beatles beginnt und bei den späten Talk Talk in schamlosen Synthie-Pop übergeht.


Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:

Es gibt keinen Song auf diesem Album, der sich strikt an konventionelle Songstrukturen hält. Statt dessen schweben die einzelnen Teile meistens in einer mehrdeutigen Wolke, die sich in Sachen Arrangement und Produktion ständig verändert und keine klare Abgrenzungen zulässt. Und doch ist das Album im Ganzen irgendwie catchy, teilweise zuckersüß und vermittelt auf eine eigentümliche Weise ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe. Durch die großartige Balance zwischen emotionalen Tiefen und faszinierenden Klanglandschaften an der Oberfläche hinterlassen Pavo Pavo einen bleibenden Eindruck.

Das ganze Album bei Bandcamp :

Nebenan im Plattenregal:

Halo Maud – Je Suis Une Île (2018)
Wilder Maker – Zion (2018)
Nedelle Torrisi – Advice from Paradise (2015)

Bibio – Phantom Brickworks: Zimmer mit Aussicht im Overlook Hotel

Bibio alias Stephen Wilkinson gilt als Erfinder des Electronic Folk und hat damit eine der interessantesten Ausdrucksformen der gegenwärtigen Popmusik zu verantworten. Auf seinem neuen Album Phantom Brickworks taucht er noch tiefer in die meterdicke Soundwatte ein, die seine Musik schon immer auszeichnete.

Bibio - Phantom Brickworks - Artwork

3.11.2017 – Warp Records / Rough Trade

In den West Midlands sind schon im Herbst die Nächte lang und dunkel. Außerdem hat die Gegend eine große Folktradition und auch heute noch eine sehr aktive Musikszene. Bibio ist es gelungen, diesen Background mit elektronischen Tüfteleien zu verfeinern und damit international Aufmerksamkeit auf sich und seine beschauliche Heimat zu lenken. Im Video zur gekürzten Vorab-Single Phantom Brickworks III taucht sie außerdem in Form eines Waldwegs auf, der ein paar Minuten lang so etwas wie die Hauptrolle des kurzen Streifens spielen darf.

Bislang hat Bibio mit jedem Album hörbar Türen geöffnet und seinem Repertoire an musikalischen Ausdrucksformen stets weitere Komponenten hinzugefügt. Auf der neuen Platte schließt er aber die meisten der bisher geöffneten Türen wieder und zieht sich scheinbar vollständig in eine Art Innenleben aus klingenden Landschaften zurück, die so etwas wie das Grundrauschen seines bisherigen Schaffens waren. Doch mit zunehmender Spieldauer tun sich Fenster auf, die den Blick auf eine unwirkliche Außenwelt freigeben. Der Rückzug hat sich also gelohnt, denn er bringt die zahlreichen Fans von Bibios einzigartiger Musik noch näher heran an die Wurzel ihres Entstehens: Die unaufhörliche Meditation über den Wesen des Klangs.

Art Feynman – Blast Off Through The Wicker (2017)

Als Sänger der Band Here We Go Magic und solo unter seinem bürgerlichen Namen hat Luke Temple schon mit zahlreichen, mehr oder weniger folkig angehauchten Platten Erfolg. Nun erfindet er sich noch mal neu und verzaubert uns mit kunstvoll gebastelten Songs, die zwischen verträumten und verspulten elektronischen Sounds pendeln.

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VÖ: 14.7.2017 auf Western Vinyl Records
Klingt fast ein bisschen wie: Arthur Russel, sir Was, Aero Flynn, The Frightnrs
Schlagworte: Nachts / Regen / Tee / Alleine

Dass Luke Temple ein begnadeter Songwriter, Gitarrist und Sänger ist, ist keine Neuigkeit. Überraschend ist eher, wie weit er sich unter seinem neuen Künstlernamen von seiner bisherigen musikalischen Comfort Zone entfernt. Als Art Feynman tauscht er seine Gitarrensammlung gegen eine Armada aus Synthesizern und Drum Machines, die klassischen Songstrukturen gegen ausufernde Loops und das Storytelling gegen assoziativ strömende Textfragmente. Dabei greift er unter anderem auf Modelle aus der elektronischen Musik und aus afrikanischen Kulturen zurück, was dem Ganzen einen zeitlosen, globalen und futuristischen Charakter gibt.

Das Video ist in höchstem Maße passend, denn die Musik zieht in einer gewissen emotionalen Distanz an uns vorbei wie das Nachtleben einer Metropole bei der Fahrt auf der Stadtautobahn. Und bis auf wenige Ausraster, bei denen die Experimente am Keyboard oder an der E-Gitarre ein wenig zu weit gehen, ist dabei aber eine extrem gut hörbare Platte entstanden. Der wilde Stilmix wird von einem sehr individuellen und persönlichen Charakter der Musik stimmig zusammengehalten. Man darf gespannt sein, ob und wie dieses Album überhaupt auf der Bühne umsetzbar ist, aber in aufgenommener Form stellt es durchaus eine einzigartige Produktion von besonderem künstlerischen Wert dar.

sir Was – Digging a tunnel (2017)

sir was

VÖ: 10.3.2017 auf City Slang
Klingt fast ein bisschen wie: Caribou, Curtis Mayfield, The Streets
Passt gut zu: Nachtfahrt, Kaugummi, Morgengrauen

Auf Tour mit Sinkane: Mo 3.4. Gebäude 9, Köln / Di 4.4. Karlstorbahnhof, Heidelberg / Mi 5.4. Kammer 2, München / Sa 8.4. ClubHeim, Hamburg (solo) / So 9.4. Berghain Kantine, Berlin (solo)

City Slang ist nicht das schlechteste Label für ein Debüt, aber der von beiden Seiten mutige Schritt erschließt sich schon nach wenigen Takten. Joel Wästberg erzeugt in jedem Track eine knisternde Spannung, die vor allem auf den grandiosen Beats, atmosphärischen Samples und den atemlosen, oft fast gerappten Vocals beruht. Trotz der eher ungewöhnlichen Zutaten gelingt es ihm, daraus nachvollziehbare Popsongs zu basteln.

Denn sir Was spielt, das macht schon das etwas nervige Wording seines Namens deutlich, nach seinen eigenen Regeln und präsentiert eine extrem unkonventionelle und packende musikalische Logik. Man merkt dem jungen Schweden an, dass er ganz viel unterschiedliche Musik gehört und auch verstanden hat, und es ist ihm gelungen, daraus etwas total neues und aufregendes zu machen, ohne die entspannteren Hörer zu überfordern. Man darf gespannt sein, wie er dieses beeindruckende Debüt live umzusetzen weiß.

The Dig – Bloodshot Tokyo (2017)

VÖ: 3.2.2017 auf Roll Call
Namedropping: Air, Metronomy, Pacific!
Passt gut zu: Cabrios, Longdrinks, Feierabend

Nachdem Synthiepop und Indie Electronic in den 00ern allgegenwärtig waren, fristete der Genrekomplex zuletzt eher ein Schattendasein. Das liegt aber wahrscheinlich nur teilweise am Zeitgeist und mitunter auch daran, dass es vielen Bands nicht gelingt, innerhalb des stilistischen Rahmens noch relevante und vor allem überraschende Dinge zu tun. The Dig haben sich ein paar Jahre mit EPs durchgewurschtelt und jetzt endlich ein substantielles Album hinbekommen. Der Aufwand hat sich jedenfalls gelohnt, denn so viel gutes Material hat man in diesem Bereich schon lange nicht mehr auf einer Scheibe erlebt. Vor allem überzeugt der durchdachte Einsatz von elektronischen Klängen im Kontext von Songstrukturen, die auch in einer rein handgemachten Version funktioniert würden. The Dig finden genau die richtige Dosis, damit die Synthies nicht einfach alles zukleistern, sondern den Bandsound intelligent ergänzen.