Hand Habits – Fun House (2021)

Schon von weitem siehst du die Vögel. Ein Schwarm wie ein Schleier über der Landschaft, seidig und fließend, schwarz und silber. Ja ok, jetzt ist es halt Herbst. Noch ein paar Sekunden, dann verschwindet die Sonne endgültig hinter den Bäumen. Du siehst noch das Licht auf den Hügeln da hinten, aber hier auf dem Feld ist es schon schattig, dunkel, kalt. Deine Jeansjacke hast du heute Nachmittag aus dem Schrank geholt, als es noch sonnig und warm war. Du gehst etwas schneller, nach Hause ist es eine knappe Stunde.

In der Küche stellst du erst mal Wasser auf, dann ziehst du deinen wärmsten Pulli an und setzt dich in den Sessel. Draußen fallen schon die ersten Tropfen, als du die grünen Blätter bei ihrem Tanz in der Kanne verfolgst. Langsam beginnt der Tee messingfarben zu leuchten. Du schenkst dir eine Tasse ein und beobachtest den Regen, der sich an der Fensterscheibe seinen Weg nach unten sucht. Gut, dass es ein neues Album von Hand Habits gibt.

Nebenan im Plattenregal:
Hand Habits – Placeholder (2019)
Anna Burch – If You’re Dreaming (2020)
Outer Spaces – Gazing Globe (2019)

Werbung

Marla & David Celia – Indistinct Chatter (2021)

Der alte Mercedes schwebt über die Landstraße. Ich sitze auf der Rückbank, draußen ziehen Felder und Hügel vorbei. Marla fährt, David hat es sich auf dem Beifahrersitz mit der Gitarre gemütlich gemacht. Im Radio tuckert die Rhythmusmaschine einer Heimorgel, begleitet von leisem Synthie-Gezwitscher. Ich schließe die Augen und fahre durch eine heile Welt der Siebziger, die es nie gegeben hat. Die ich nie erlebt habe. Das Heute ist plötzlich weit weg, wie ein schemenhaftes Gebirge am Horizont. Wir rasen darauf zu, die Konturen werden schärfer und irgendwann werden wir ankommen. Aber noch ist Zeit, Zeit für ein paar Songs, Songs die uns einen Moment der Ruhe und des Durchatmens schenken.

Wir werden langsamer, die Harmonien sind verstummt und die letzten zarten Akkorde auf der Gitarre werden von den Motorengeräuschen verschluckt. Wir sind angekommen, jetzt müssen wir raus in die Kälte. Schwere Dinge schleppen, schaffen, Probleme lösen. Nicht zu viel und nicht zu wenig an die Zukunft denken, nicht zu kurz und nicht zu lange in Erinnerungen schwelgen. Let’s go.

Nebenan im Plattenregal:
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)
Fooks Nihil – Fooks Nihil (2020)
Lorain – Through Frames (2018)

Fooks Nihil – Fooks Nihil (2020)

Folk Rock / Indie Folk / West Coast

Die Sonne brennt herunter auf die Weinreben, da hinten glitzert das Wasser. Das Verdeck ist offen, der Fahrtwind trägt die ersten Klänge zu uns herüber. Wir stellen den alten Saab am Ende einer langen Autoschlange neben der Landstraße ab und laufen auf dem Seitenstreifen in Richtung der wild auf einer Wiese verteilten Zelte. Auf der Bühne stehen drei Typen mit Schlaghosen, flatternden Hemden und lange Haaren: Schlagzeug, Bass, Gitarre und dreistimmiger Gesang. Auch mit offenen Augen sind wir in einem Film über die goldenen Jahre der Westküsten-Musikszene. Die Zeit scheint vor etwa 50 Jahren stehen geblieben zu sein, hier beim Festival in Hamm am Rhein.

Konzert-Tipp: Fooks Nihil & Dux Louie – Sa 26.09.20 im Karlstorbahnhof Heidelberg

Das war 2018 und seither hatten Fooks Nihil genügend Zeit, ihre live damals schon extrem mitreißende Nostalgienummer auf Platte zu bannen. Jetzt ist das Debüt-Album da und Fans der Musik von damals werden nicht enttäuscht. Kennt ihr das auch, wenn ihr in einem ranzigen Plattenladen in der allerletzten Ecke eine Scheibe von einer völlig unbekannten Folk-Rock-Band aus den Siebzigern für drei Euro findet und die ist dann auch noch geil? Genauso fühlt sich das Debüt von Fooks Nihil an, und das ist ein verdammt gutes Gefühl. Denn solche Zufallsfunde aus der Vergangenheit sind seltener geworden, die Zeit der großen Entdeckungen in der Grabbelkiste ist vorbei. Umso schöner, dass es immer mehr jungen Bands wie Fooks Nihil gelingt, dem Sound von damals mit individueller Note und ohne Retro-Klischees neues Leben einzuhauchen.

Nebenan im Plattenregal:
Bonny Light Horseman – Bonny Light Horseman (2020)
Mapache – From Liberty Street (2020)
Loving – If I Am Only My Thoughts (2020)

Daniel Romano – Finally Free (2018)

Folk Rock / Indie Rock / Indie Folk

Als es in den deutschen Großstädten noch nicht überall fließendes Wasser gab, gingen die Menschen regelmäßig in Badehäuser. Oft hatten diese keine Schwimmbecken, sondern nur Duschkabinen oder kleine Räume mit Badewannen. Dann traf man seine Nachbarn im Warteraum, lernte sich kennen und tauschte Neuigkeiten aus. Mit der Sanierungswelle in den Wirtschaftswunderjahren wurden flächendeckend Bäder in Privathäuser eingebaut, mit den nun obsoleten Badehäusern verschwand auch ihre Funktion als Ort der sozialen Begegnung. Nicht so in der Mannheimer Neckarstadt, wo die Menschen die Tradition des Badbesuchs bis in die Achtzigerjahre pflegten. Heute ist das Alte Volksbad in der Mittelstraße ein Kreativwirtschaftszentrum und im Keller gibt es eine sogenannte Geschichtswerkstatt, wo regelmäßig Veranstaltungen wie Flohmärkte und auch Konzerte stattfinden. Die ehemalige Kasse wird zur Bar umfunktioniert, es gibt gutes regionales Bier und die Stimmung ist aufgrund der Mischung von angereisten Musikfans und einem sehr begeisterungsfähigen Stammpublikum aus dem Viertel einzigartig. Nicht selten greift die Atmosphäre nach ein paar Songs auch auf die winzige Bühne über, ungläubige Blicke werden ausgetauscht, ein gewaltiger Ruck geht durch den Raum. Und irgendwann nach 10 Pils an einem Montagabend stehen alle mit selbstgedrehten Zigaretten auf der Straße und helfen, den Bandbus einzuladen.

Die oben beschriebenen Gegebenheiten im Alten Volksbad ließen sich auch bei Konzerten im Kontext der folgenden Alben beobachten:
Jess Williamson – Cosmic Wink (2018)
The 200s – Power Move (2019)
Daniel Romano – Modern Pressure (2017)

Andre Ethier – Under Grape Leaves (2017)

Indie Folk / Bedroom Pop / Ambient

Ich kann es immer noch sehen, es ist wirklich als würde ich es gerade jetzt zum ersten Mal sehen. Dort in einem großzügigen, sommerlich warmen Speisesaal sitzt er, mit dem Rücken zum Meer, in dem Rochen und vielleicht Haie schwammen. Ich saß ihm gegenüber, am gleichen Tisch, und doch scheint es als würde er mich durch die Tür beobachten, durch die schon alle anderen gegangen sind, sodass nur noch wir beide übrig blieben, die wir als letztes angekommen und zum Mittagessen erschienen waren. Das ganze Wochenende lag vor uns, Paracas war nicht weit weg. Wir könnten am Montagmorgen zurück in die Stadt fahren und immer noch pünktlich an der Schule ankommen. Meine Mutter hatte keine Zeit, deswegen nahm er mich mit. Er nahm mich immer auf seine Reisen mit, wenn sie ihn nicht begleiten konnte. Seine Firma bezahlte ihm meistens die Übernachtungen in schicken Hotels. Ich glaube er mochte die Reisen mit mir, aber für mich waren sie das Größte, denn ich hatte Paracas und die ganzen anderen Orte noch nie zuvor besucht.

Nebenan im Plattenregal:
Andre Ethier – Croak In The Weeds (2019)
Aoife Nessa Frances – Land Of No Junction (2019)
Cate Le Bon – Reward (2019)

Andre Ethier – Croak In The Weeds (2019)

Indie Folk / Bedroom Pop / Ambient

Es war schon September, das Geld ging so langsam zur Neige und die Brandung wurde jeden Tag ein wenig lauter. Die Nächte waren schon lange nicht mehr so warm wie im Hochsommer, viele Urlauber hatten ihre Zelte in den letzten Tagen abgebaut, ihre Autos beladen und die Heimreise angetreten. Geblieben waren die Surfer, die Kiffer, die Misfits und alle, die zuhause sowieso nichts zu tun hatten. Die Mädchen waren schon abgehauen, sie hatten es mit uns Chaoten nicht mehr ausgehalten und konnten zwei Sitzplätze im VW-Bus einer jungen Familie ergattern. Ich lag die meiste Zeit in meinem Pulli am vernebelten Strand und las Platon, Zeile für Zeile und jedes Kapitel mindestens drei Mal. Eines Tages ging ich morgens am Deich entlang spazieren, dort wo kein Sand mehr war und dichtes Schilf die nahe Flussmündung ankündigte. Ein kalter Wind blies vom Meer herüber, im Westen formierte sich eine Front aus dunklen Wolken. Als ich wieder am Zeltplatz ankam, fielen unzählige kleine Regentropfen auf die Planen, ein leises Knistern lag in der kühlen Luft. Rüdiger trat ohne Hose aus seinem Zelt und zündete sich einen großen Joint an. Er blinzelte nach Südosten, wo normalerweise die Sonne um diese Uhrzeit gestanden hätte. Dann nahm er einen tiefen Zug und sagte zu mir, während er den Rauch ausatmete: Der Sommer ist vorbei, heute fahren wir.

Nebenan im Plattenregal:
Gabriel Birnbaum – Nightwater (2020)
Aoife Nessa Frances – Land Of No Junction (2019)
Andre Ethier – Under Grape Leaves (2017)

Twain – Adventure (2019)

Cosmic American Music / Indie Folk

Er war monatelang auf Tour in Europa und hatte sich unterwegs beim Schwimmen im Atlantik den Fuß gebrochen. Am Himmelfahrtstag spielte er nachmittags eine Show im Freien, ungefähr 50 Meilen entfernt. Mein Freund fuhr mit seinem alten Mercedes hin und holte ihn ab, gegen sechs Uhr Abends trafen die beiden in der Scheune ein. Mit seiner improvisierten Krücke gab er zunächst ein mitleidserregendes Bild ab, doch als er mit seiner Gitarre auf dem Barhocker saß, wirkte er plötzlich sehr lebendig. Wir tranken Rotwein aus großen Gläsern und als er anfing zu spielen, waren alle geschockt von der Schönheit seiner Musik, dem elektrisierenden Klang der Saiten und dem Feuer in seiner Stimme. Später zogen wir weiter und setzten uns auf meinen Balkon, es war noch sehr warm. Ich ging rein und legte Astral Weeks auf, während er das geprägte Leder auf meinem antiken Klavierhocker bewunderte. Morgens lief ich zu einem Bauernhof und kaufte frische Erdbeeren. Als er ausgeschlafen hatte frühstückten wir in der Sonne. Danach nahm er ein Bad und sang dabei laut ein paar Songs von Creedence Clearwater Revival.

Nebenan im Plattenregal:
Simon Joyner – Pocket Moon (2019)
Twain – Rare Feeling (2017)
Twain – Life Labors in the Choir (2014)

Mapache – From Liberty Street (2020)

Indie Folk / Folk Rock / Cosmic American Music

Wir sind wie die Higuerilla, diese wilde Pflanze, die an den magersten und schroffsten Orten wurzelt und sich vermehrt. Schau mal, wie sie im Sand wächst, im ausgetrockneten Abwasserkanal, in der gerodeten Fläche neben der Müllkippe. Sie bittet um nichts von niemandem, alles was sie zum Überleben braucht, ist ein Stück Boden. Weder die Sonne im Himmel noch das Salz in der Erde, nicht mal der Sturm über dem Meer kann ihr was anhaben, geduldig lässt sie sich von den Menschen treten und von den Traktoren überrollen. Doch die Higuerilla wächst weiter, verbreitet sich, ernährt sich von Stein und Abfall. Dort, wo wir an der Küste diese Pflanze finden, dort lassen wir uns nieder und bauen unsere Hütte. Denn hier werden auch wir leben können.

Nebenan im Plattenregal:
Mapache – Mapache (2019)
Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)

Aoife Nessa Frances – Land Of No Junction (2019)

Psychedelic Folk / Indie Folk / Chamber Pop

Sie saß am Fenster und beobachtete, wie der Abend die Allee eroberte. Ihr Kopf berührte die Vorhänge und in ihrer Nase sammelte sich der Geruch von staubiger Baumwolle. Sie war müde und verträumt, denn nur wenige Menschen zogen an ihrem Haus vorbei. Der Mann aus dem Haus am Ende der Straße kam, zuerst hörte sie seine Schritte auf den Pflastersteinen, dann das Knirschen auf dem Schotter in der Einfahrt zu seinem Haus. Dort war früher eine Brache, auf der sie früher jeden Abend mit den Nachbarskindern spielte. Ende der Sechziger wurde das Grundstück verkauft und reiche Leute bauten Häuser darauf, nicht klein und braun wie ihres, sondern groß und aus rotem Backstein mit glänzenden Dächern. Sie sah sich in ihrem Zimmer um und ließ ihren Blick schweifen über die ganzen Erinnerungsstücke, die sie jede Woche abstaubte und sich dabei wunderte, wo der ganze Staub denn herkam.

Nebenan im Plattenregal:
Mega Bog – Dolphine (2019)
Luke Temple – Both-And (2019)
Weyes Blood – Titanic Rising (2019)

Loving – If I Am Only My Thoughts (2020)

Indie Folk / Folk Rock / Soft Rock

Ein kalter Herbstabend im Nordosten von Paris, du bist der frühe Vogel in diesem riesigen alten Schlachthof. Bis jetzt ist nur der Seitenflügel geöffnet, doch der erste Song der ersten Band weht schon herüber in den Eingangsbereich. Die Foodtrucks duften nach Raclette, Dim Sum und Flammkuchen, doch die leise Musik saugt dich hinein in diesen kleinen Raum mit Bar und Bühne, dessen Fensterfront den Blick zum Kanal öffnet und den Schein der Straßenlaternen hineinlässt. Doch du schaust nur nach vorne: Geschlossene Augen hinter den Mikrofonen, Streicheleinheiten fürs Schlagzeug, flauschige Gitarrenteppiche, Gänsehaut, ungläubige Blicke. Wenn der Abend so weiter geht, sind die Freudentränen nur eine Frage der Zeit.

Nebenan im Plattenregal:
Whitney – Forever Turned Around (2019)
Outer Spaces – Gazing Globe (2019)
Buxton – Stay Out Late (2018)