Jetzt erst mal nach Hause, Kakao mit Bonusmaterial warm machen und ab auf die Couch. Die Blätter des Zitronenbaums vor dem Fenster wippen im Takt der Regentropfen, die Musik ist überall dazwischen. Du nimmst ein altes Buch vom Kaffeetisch, aber die Augen fallen immer wieder zu und du siehst nur noch blaue und gelbe Flecken. Na gut, dann halt einfach träumen. Von einer komplett grünen Welt ohne Menschen, aber mit vielen schrägen Vögeln. Wo immer die Sonne scheint und es immer regnet, wo immer Tag ist und immer Nacht. Wo die Bäume heimlich singen und tanzen, wo die Bäche aus dem Tal hinauf in die Berge fließen.
Schon wieder viel zu viel Vodka Soda gestern Abend. Ich hab immer noch meine Trainingsjacke an und liege rückwärts auf der Couch. Die Sonne scheint mir direkt ins Gesicht und in der Glotze läuft seit 3 Uhr morgens Full House als Dauerschleife. So lebendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.
In blauen Wolken wunderbar geborgen: Yves Jarvis wirft mit seinem zweiten Album den letzten Rest Songstruktur über Bord und nimmt Kurs auf ein unentdecktes Land jenseits des Ozeans namens Psychedelic Soul.
Erschienen am 1. März 2019 bei Anti-Records
Text: Tobias Breier
Yves Jarvis wurde 1996 in Calgary als Jean-Sebastian Audet geboren und sorgte schon als Zwanzigjähriger unter dem Pseudonym Un Blonde mit einem erstaunlichen Debüt-Album für Aufsehen. Damals widmete er die Platte der Farbe Gelb und damit der Sonne. Auch wenn die Tracks kaum unterschiedlicher sein könnten, so hatten sie doch diesen sommerlichen Charakter als gemeinsamen Nenner. The Same But By Different Means ist nun der Farbe Blau gewidmet und damit der Nacht, dem Nebel, dem Zwielicht und vor allem dem Blues. Und erneut weigert sich Yves Jarvis standhaft, klassischen Songstrukturen zu entsprechen. Auch wenn er nun zwei bis drei mal ganz knapp daran vorbeischlittert.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Dabei scheint Yves Jarvis ein Händchen für große Pop-Momente zu haben: Sobald etwas greifbares aus dem Tohuwabohu herausragt, geht es sofort in Richtung Ohrwurm. Aber auch die sphärischen Tracks, die teilweise aus nicht viel mehr als Vogelgezwitscher und einer verhallten Mundarmonika oder gospelhafte Stimmen im Hintergrund bestehen, haben einiges zu bieten. Die Höhepunkte sind aber eindeutig die Stellen, bei denen sich das Ganze in hemmungslosen Grooves entläd. Dann klingt Yves Jarvis wie eine zeitgemäße Wiedergeburt des großen Shuggie Otis, der Anfang der Siebziger mit unterbelichteten Drumcomputern, vom Winde verwehten Gitarrensoli und seiner schwerelosen Stimme die Grundlage für den Boom psychedelischer Soulmusik legte. Insgesamt gelingt ihm hier ein herausragendes Album, das mit jedem Hören an Struktur und Bedeutung gewinnt.
Ein kauziges Vergnügen: Homeshake setzt mit dem dritten Album seinen mühsam erspielten Status aufs Spiel und gewinnt am Ende satt.
Erschienen am 15. Februar 2019 bei Sinderlyn
Im Fahrwasser seiner prestigeträchtigen Tätigkeit als Gitarrist von Mac DeMarco gelang Pete Sagar mit seinem Projekt Homeshake schon mit seinem Debüt vor einigen Jahren so etwas wie ein kleiner Durchbruch. Mit Fresh Air (2017) begann die zunehmende Konzentration auf seine Solokarriere und die Zementierung seines Status als Vorzeige-Weirdo von Montreal. Nach zahlreichen Festivalshows und viel Applaus aus der Szene ist Homeshake inzwischen ein Name geworden, der selbst in Deutschland schon etwas größere Clubs wie den Festsaal Kreuzburg (Tourdaten gibt’s hier) füllen soll. Kein Wunder, denn Homeshake liefert den perfekten Sound für die intimen After Hours nach den Clubnächten mit futuristisch-minimalistischen Trapbeats, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Das klingt als Aufhänger erst mal abwegig, trifft aber gerade durch seine Virtualität aktuell einen Nerv.
Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:
Doch Pete Sagar wäre nicht Homeshake, wenn er den gerade zart sprießenden Erfolg nicht musikalisch aufs Spiel setzen würde. Deshalb wurden die Aufnahmen vom angestammten Studio in Montreal direkt ins Schlafzimmer verlegt und zahlreiche Vorkehrungen getroffen, um den betont improvisierten Sound der vergangenen Platten mehr als nur zu erhalten. Auf der musikalischen Ebene grenzen die entsprechenden Bemühungen an eine unverhohlene Provokation des Publikums: Da eiern einzelne Synthie-Töne bisweilen minutenlang vor sich hin oder infantile Melodiepartikel bleiben in endlosen Loops hängen. Solche Streiche stellen eine gefährliche Steilkurve dar, aus der viele musikalische Lausbuben rausfliegen. Auf Helium gelingt Peter Sagar aber in den meisten Fällen gerade noch so der perfekte Drift in Richtung Hörvergnügen.
Vor kurzem haben Sea Moya den Sprung ins kanadische Montreal gewagt. Also in die Musikmetropole, die ihre ehemalige Homebase Mannheim eines Tages sein will. Und obwohl ihr Debüt-Album Falmenta im gleichnamigen italienischen Alpenörtchen entstand, ist es musikalisch eher im kosmopolitischen Dschungel der Großstadt zuhause.
Sie sind viel unterwegs, die Jungs von Sea Moya. Schon ihre beachtliche EP Baltic Seas handelte von einer sommerlichen Entdeckungsreise, auf der die Band sich von weiten Küstenlandschaften inspirieren ließ. Vor dem mutigen Umzug auf die andere Seite des großen Teichs hat sich das Trio für die Produktion der ersten LP für ein paar Wochen in einem Chalet im Piemont eingeschlossen. An ländliche Idylle, Alpenpanoramen oder Hüttenromantik lässt die Platte jedoch an keiner Stelle denken. Von den Bedingungen der Aufnahmen zeugt eher die besondere Konzentration und klangliche Hermetik, die sich zwischen den stoisch rollenden Drums, schwebenden Synthie-Klängen und weit aufgespannten Melodiebögen einstellt.
Das Musikvideo zur Single „Purple Days“ auf Youtube:
Musikalisch leben Sea Moya seit jeher ein bisschen auf ihrem eigenen Planeten. Ein Großteil der stilistischen Elemente wirkt entfernt vertraut, die Zusammensetzung und Verarbeitung scheinen aber nicht den gängigen Naturgesetzen zu gehorchen. Insbesondere die Gravitation formaler Modelle scheint überwunden: Um ihre musikalischen Ideen zu transportieren, brauchen Sea Moya keine offensichtlichen Songstrukturen, keine Entwicklungslogik wie weite Teile der elektronischen Musik und auch keine dogmatische Krautrock-Esoterik. Die Unterbrechungen zwischen den Titeln wirken deshalb wie natürliche Denkpausen in einem durchgehenden Stream of Consciousness, der sich nicht nur zum aufmerksamen Zuhören eignet, sondern auch hervorragend als Begleitmusik zum Arbeiten, Lesen oder Autofahren. Es gibt wenige Platten, die das Credo dieser Seite von der Überflüssigkeit von Mood-Playlists so deutlich und formschön unterstreichen.
Als Bassist von Tops, Sänger von Sheer Agony und Produzent von Homeshake hat sich Jackson Macintosh schon weit über seine Heimatstadt Montreal hinaus einen Namen in der Indieszene gemacht. Die Qualität des ersten Soloalbums unter eigenem Namen legt nahe, dass sein kreativer Input bei seinen bisherigen Projekten und Kollaborationen wohl deutlich höher war als bislang angenommen.
Release: 2. März 2018 / Sinderlyn
Wer Bass spielt, steht oft im Hintergrund. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch musikalisch und in der Wahrnehmung des Publikums. Dabei müsste spätestens seit Paul McCartney, Roger Waters und Sting klar sein, dass am Bass oft die Weichen gestellt werden für große Popmusik. Wer sich genauer mit den Bassläufen von Jackson McIntosh bei Tops beschäftigt, wird schnell feststellen, dass der Multi-Instrumentalist entscheidend zum unwiderstehlich schwerelosen Groove der Band beiträgt. Zum einen durch das Weglassen von genau den Tönen, die man nach Ansicht der Lehrkräfte für Bass an der örtlichen Musikschule unbedingt betonen muss. Zum anderen durch das Vermeiden und Umspielen von Grundtönen, die normalerweise eine Harmonie eindeutig befestigen würden.
Und auch auf der ersten Soloplatte unter eigenem Namen spielt der Bass eine entscheidende Rolle. In den Strophen der ersten Single „Lulu“ spielt er ohne Rücksicht auf den Rest des Geschehens seinen Stiefel herunter und sorgt so für eine reizvolle harmonische Spannung. Im Refrain übernimmt der Basslauf dann die Führung und gibt den anderen Instrumenten die Akkorde eindeutig vor. Im weiteren Verlauf der Platte lassen sich immer wieder solche Beobachtungen machen, allerdings rückt die vorzügliche Qualität des Songwritings und das delikate Arrangement immer weiter in den Vordergrund. Stilistisch bewegt sich alles mühelos zwischen eingängigem Soft Rock, psychedelischen Exkursen und elegantem Post-Punk. Kurz: Wer auf den spannenden Umbruch in der Popmusik zwischen den 70s und 80s steht, findet hier ein hervorragendes Album, dass sich an der für die Entstehung des heutigen Indie Pop entscheidenden Nahtstelle entlang in ungeahnte Tiefen vordringt. Ein rundum gelungenes Debüt, das auch das bisherige Wirken von Jackson MacIntosh als Bandmitglied und Produzent in einem neuen, deutlich helleren Licht erscheinen lässt.
2014 gelang den Mädels und Jungs von TOPS auf ihrem zweiten Album mit sonnigem Gitarrenpop der internationale Durchbruch. Inzwischen haben sie sich noch mal deutlich weiterentwickelt, glücklicherweise ohne ihre ansteckende Leichtigkeit einzubüßen.
VÖ: 2.6.2017 auf Arbutus Klingt fast ein bisschen wie: Fleetwood Mac, Tennis, Widowspeak Stichworte: Nachmittags / Sonne / Kaffee / Mit Freunden
Drei Jahre Pause, ein Besetzungswechsel, ein Umzug aus der Heimat nach LA. Das sind nicht gerade die idealen Umstände für eine Band, um an den plötzlichen Erfolg mit einem grandiosen, aber auch sehr unbekümmerten Album wie Picture You Staring anzuknüpfen. Die Befürchtung lag nahe, dass sich die Truppe um Jane Penny verzettelte, dass sie sich vom Leben in der Großstadt ablenken ließ oder, noch schlimmer, alles ganz anders und womöglich schlechter zu machen als zuvor. Mit dem Erscheinen der zuckersüßen Vorab-Single Petals waren aber alle Zweifel schnell eliminiert. TOPS haben das Kunststück fertig gebracht, sich treu zu bleiben und trotzdem noch besser zu werden.
Und auch das Album hält was es verspricht: Superentspannter Gitarrenpop und intelligentes Songwriting treffen auf eine gesunde Portion schräge Ideen, die nicht nur in den Videos, sondern auch in den Texten und den Arrangements ihr unterhaltsames Unwesen treiben. Das ist einerseits grundsympathisch, andererseits aber auch ein notwendiger Gegenpol zu der Unmenge an musikalischem Honig, der einem entgegenfließt. Dabei ist die Produktion merklich rauer und weniger in sepiafarbene Vintage-Hallfahnen getaucht als bisher, der Gesang ist entweder hochaufgelöst direkt in unserem Ohr oder kommt leicht verzerrt aus dem Nebenraum. Clevere Kontraste dieser Art geben dem Ganzen eine erstaunliche Tiefe, die immer wieder zum erneuten Hören einlädt. Ein überzeugendes Album und ein nächster Schritt einer unglaublich talentierten Band auf dem langen Weg aus der Indie-Nische in die erste Liga der avancierten Popmusik für Erwachsene.