Mit 50 Jahren gewinnt der Blick zurück an Klarheit. Das gilt im Leben ebenso wie in der Popmusik. Was bleibt übrig, wenn Hypes und Zeitgeist sich verabschiedet haben? In unserer Serie „Fünfziger“ geht es deshalb um Platten, die vor genau einem halben Jahrhundert ihren Fußabdruck in der Musikgeschichte hinterlassen haben. Heute: Bob Dylan und der sanfte Widerstand.
Bob Dylan ist tot – es lebe Bob Dylan: Mit Nashville Skyline entzog sich der US-amerikanische Ausnahmekünstler am 9. April 1969 erneut dem erdrückenden Klammergriff von Fans und Industrie. Während seine ehemaligen Wegbegleiter immer tiefer ins psychedelische Nirwana abdrifteten, sang der Hoffnungsträger einer ganzen Generation mit breitem Grinsen simple Country-Songs. Selten zuvor hatte ein Prophet seinen Anhängern so deutlich die Tür seines Tempels vor der Nase zugeknallt. Doch was damals auf harsche Ablehnung stieß, gilt heute als verkannter Klassiker. Über das Album als musikalische Selbstverteidigung.
Es hätte nicht viel gefehlt, und der 29. Juni 1966 wäre als einer der schwärzesten Tage in die Geschichte der Rockmusik eingegangen. Es ist ein sonniger Tag, als ein Motorrad der Herstellers Triumph auf einer abgelegenen Straße in den Hügeln von Woodstock (NY) aus einer Kurve geschleudert wird. Was den Crash aus den Meldungsspalten der Lokalpresse in die landesweiten Nachrichten bringt: Der Fahrer ist der damals 25-jährige Bob Dylan – Symbol, ja Prophet einer ganzen Generation.
Er überlebt, doch danach wird der Sänger nie wieder derjenige sein, den seine Fans bis dahin in ihm zu sehen gehofft hatten.
Man kann weder Dylans schillernde Biografie noch das drei Jahre später erschienene Nashville Skyline ohne die Ereignisse dieses Junitages verstehen. Viel ist später darüber spekuliert worden, die Gerüchteküche brodelte schon damals munter. Und erst rund ein Jahr später setzte seine erste Wortmeldung in Form eines Interviews den Sorgen seiner Fans ein Ende, Dylan sei überhaupt nicht mehr am Leben. Auch heute gilt noch: Wie so manches aus dem Leben des Jungen aus Minnesota umgibt auch den Unfall weiterhin eine Aura des Semifaktischen und Mystifizierten.
Was aber bleibt, ist das perfekte Symbol einer radikalen Zäsur. Dylan hatte sie zu dieser Zeit bitter nötig. Im Mai ’66 war Blonde on Blonde, das dritte Album seiner „elektrischen Trilogie“ mit dem Superhit Like a rolling stone erschienen. Es war die Krönung eines atemberaubenden Aufstiegs: Innerhalb weniger Jahre war der Sänger vom schüchternen Landei in den Folk-Cafés von Greenwich Village zu einer Ikone der Gegenbewegung geworden. Inbegriff der Coolness, Heilsbringer einer aufbegehrenden jungen Generation. Was Dylan sagte, galt als ultimative Wahrheit, seine Jünger hingen gierig an seinen Lippen und vielen Beobachtern schien er bereits mehr Symbol denn Mensch zu sein.
Aber Dylan war am Ende. Erdrückt von der eigenen Größe und der gnadenlosen Verwertungsmaschinerie einer aufstrebenden und hungrigen Musikindustrie. Die endlosen Konzerte, der Erwartungsdruck und die Drogen setzten ihm zu. Im Sommer ‘66 ähnelte der Sänger einer tragischen Karikatur seiner selbst: die Wangen waren eingefallen, die Augen leer, seine Interviews schwankten in einer Mischung aus zynischer Resignation und bloßer Erschöpfung zwischen pointierten Slogans und absurdem Nonsense. In den Tagen vor dem Unfall soll Dylan drei Tage lang nicht geschlafen haben. „Ich habe schon mehr als ein 55 Jahre alter Mann hinter mir“, stöhnte er.
Der Unfall bot ihm also endlich Möglichkeit des Rückzugs. Dylan zog sich in sein Haus in Woodstock zurück, widmete sich seiner jungen Familie und der Malerei. Ab und zu kamen die Musiker der Hawks für ein paar lockere Sessions vorbei – seine Begleitband, die später zu The Band werden sollte. Einem Reporter erzählte er: „Ich habe viel darüber nachgedacht, wohin ich eigentlich will, wovor ich davonlaufe und was ich zu mir nehme.“
Wohlkalkulierte Worte eines genialen Selbstdarstellers – oder überraschend ehrliche Sätze aus dem Mund eines geläuterten Mannes?
Wie auch immer, die Veröffentlichung von John Wesley Harding im Dezember 1967 war dann jedenfalls so etwas wie der Auftakt zur Enthüllung eines einmal mehr rundum erneuerten Dylan. Mit Nashville Skyline sollte sich diese Wandlung dann endgültig vollziehen.

John Wesley Harding nimmt bereits einiges vorweg, was auf Nashville Skyline zum endgültigen und vernichtenden Angriff auf die Erwartungshaltungen werden sollte. Der Schockeffekt begann schon im Plattenladen: Während die Rockbands der 60er am Ende des Jahrzehnts immer bunter und psychedelischer wurden, wirkte Dylans Cover in seiner verblichenen und kruden Optik fast wie Hohn. Hier wollte jemand ganz eindeutig nichts mehr mit einer Ästhetik zu tun haben, die er selbst entscheidend geprägt hatte.
Auch inhaltlich schien Dylan auf den minimalen Effekt setzen zu wollen. Der für damalige Verhältnisse fast apokalyptische Soundwall, den die Hawks noch auf den drei vorhergehenden Scheiben (Bringin‘ it all back home, Highway 61 Revisited, Blonde on Blonde) inszeniert hatten, wich jetzt einem dünnen und klapprigen Gerüst, auf dem der Sänger biblische Geschichten in einer für ihn völlig ungewohnten Eindeutigkeit verkündete. Von Rock – geschweige denn von Folk – war nicht mehr viel übrig. Stattdessen kam Dylan mit Country und Western um die Ecke.
So langsam begannen die Fans unruhig zu werden.
Der Knall kam dann aber erst mit der folgenden Platte. Noch nie hatte ein Prophet seinen Anhängern so deutlich die Tür seines Tempels vor der Nase zugeknallt. „Dylan ist zuerst Geschäftsmann und zuletzt Prophet“, schrieb der Kritiker der New York Times spürbar angefressen. „Jetzt grinst er uns frech und fett vom Albumcover entgegen. Nur er, seine Gitarre und das Logo von Columbia Records, als wollten sie sagen ‚Howdy, Leute. Wollt ihr ein paar nette Songs kaufen, zu denen man den Takt mitklopfen kann?‘“
Was war passiert? Zum einen präsentiert sich Dylan auf Nashville Skyline so eindeutig und offen wie nie zuvor. Hier gibt keine einäugigen Zwerge mehr, keine atemlos-kunstvoll herausgeballerten Wortsalven, keine beißende Kritik an Wirtschaftsbossen und auch keine kryptischen Referenzen an französische Dichter des 19. Jahrhunderts. Stattdessen freimütige Liebesschwüre und authentische Reuebekundungen. Schon das war vielen eingefleischten Fans, denen Dylans nebulöse Poetik immer auch zur eigenen Identitätsstiftung gedient hatten, kaum zuzumuten.
Zum anderen wirkte Dylans neue Liebe für den als reaktionäre Musik der Südstaaten geschmähten Country wie ein besonders dreister Verrat. Ein Verrat an den Idealen der linken Protestbewegung, die viele Fans der ersten Stunde eng mit ihm verbanden und die er ja durchaus in vielen Songs auch unmissverständlich vertreten hatte. Viele junge Menschen fühlten sich so auch persönlich von ihm hintergangen.
Verziehen haben das manche ihrem ehemaligen Idol bis heute nicht. Dabei lohnt es sich auch für die Kritiker, Nashville Skyline mit einem Satz frischer Ohren zu hören. Denn trotz der bewussten Verweigerungshaltung, die Dylan zweifellos in dieser Phase in sich trug, spricht aus den Songs dieses Album vor allem eine große Aufrichtigkeit. Versteckte sich der Dylan der„elektrischen Phase“ hinter beißendem Spott, ironischer Brechung und bellenden Slogans, kann man auf Nashville Skyline einen Künstler erleben, der sein Herz tatsächlich auf der Zunge trägt.
Mit Lay Lady Lay, I threw it all away, und Tell me that it isn’t true vereint dieser verkannte Klassiker zudem drei der wohl berührendsten und aufrichtigsten Songs der Dylan-Diskographie. Nicht zuletzt wegen dieser Nummern gibt es Kritiker, die behaupten auf diesem Album könne man dem Menschen hinter der Kunstfigur Bob Dylan am nächsten kommen.
Schon zu Beginn überrascht Dylan. Denn zum einen hat er sich als Opener keinen frischen Song, sondern die Neuauflage von Girl from the North Country ausgesucht, das zuerst auf seinem zweiten Album The freewheelin‘ Bob Dylan (1963) erschienen war. Und zum anderen taucht da plötzlich dieser schwere Bariton auf, den man auf einem Dylan-Album ja nun wirklich nie vermutet hätte: Johnny Cash gibt sich die Ehre als Duett-Partner.
Aber Dylan wäre nicht Dylan, hätte er sich nicht noch mehr einfallen lassen. Und so kommt es, dass böse Zungen gerne behaupten, auf Nashville Skyline habe der dünne Junge endlich singen gelernt. Als hätte er die sprichwörtliche Kreide gegessen, croont der vormals so kratzbürstige Sänger sanft und beschwingt auf dieser Platte – die Entscheidung, ob er sich deswegen hier aber auch als Wolf im Schafspelz inszeniert, bleibt jedem Hörer selbst überlassen.
Aus heutiger Sicht ist die Platte vor allem der Soundtrack einer Zäsur, die eine dritte Schaffensphase des Songwriters einläutete. Nachdem er 1965 bereits versucht hatte, mit der elektrischen Gitarre den von ihm verhassten Begriff des „Protestsängers“ endlich und endgültig zu massakrieren, folgte nun also mit Nashville Skyline der sanfte Widerstand.
Das ganze Album bei Spotify:
Bislang erschienen in der Reihe Fünfziger:
Fünfziger: The Flying Burrito Brothers – The Gilded Palace of Sin (1969)