Kompromisslose Nahaufnahme: Molly Sarlé entdeckt auf ihrem ergreifend klangschönen Debüt den Rollentausch als Medium der Selbsterkenntnis.
Partisan Records / 20. September 2019
Schon die Ankündigung des Albums strotzt vor Mythologisierung: Da ist von einer Karaokebar die Rede, in der Molly Sarlé eines Nachts bei der Darbietung von Fleetwood Macs Dreams die Inspiration zu diesem Album gefunden haben will. Von unzähligen gescheiterten Aufnahmeversuchen in der erdrückenden Enge von verschiedenen Tonstudios. Und von einer alten Kirche, in der sie mit ihrem Produzenten Sam Evian Zuflucht fand.
Dieser Narrativ mag konstruiert wirken, doch die Musik auf Karaoke Angel löst sein atmosphärisches Versprechen locker ein. Die Aufnahmen gehen stets ganz nah ran an die gelernte Schauspielerin, die in jedem Song sowohl erzählerisch als auch musikalisch in eine andere Rolle schlüpft. Und irgendwo zwischen unwiderstehlichen Landstraßen-Grooves, spiritistischen Gesängen und windschiefen Balladenfragmenten setzt sich plötzlich wie ein Mosaik das Bild einer Künstlerin zusammen, die wie jede gute Charakterdarstellerin durch die Verkörperung von fiktiven Gestalten vor allem ihre eigene schillernde Persönlichkeit offenbart.
Schrullige Idylle: Hannah Cohen entflieht dem High-Life im Big Apple und erfindet sich neu als genialisches Landei.
Bella Union / 26. April 2019
Wenn dir in deiner furzkleinen Pärchenwohnung die Decke auf den Kopf fällt, bleibt eigentlich nur noch eins: Trennung und Neuanfang! Eine eher schlechte Idee, wenn man mit einem begnadeten Gitarristen und Produzenten zusammenlebt und gerade an seiner zweiten Platte werkelt. Also hat Hannah Cohen das einzig richtige gemacht und ihren Sam (Nachname Owens, Künstlernachname Evian) mitsamt seinem Equipment und einigen Mitmusikern in ein Chalet auf dem Land entführt. Genauer gesagt in den traditionsreichen Pop-Rückzugsort Woodstock, wo schon Bob Dylan vor den Ablenkungen des Großstadtdschungels in Deckung ging.
Die fertige Platte heißt nicht nur Welcome Home, sondern klingt auch genau so: Einladend, heimelig und analog wie die Holzdielen im Video zu This is your life. Der gute Sammy hält sich angenehm zurück und lässt der auf den ersten Blick eher floralen Stimme von Hannah den Vortritt, die textlich aber einiges zu sagen hat und musikalisch jedem Song ihren durchaus unkonventionellen Stempel aufdrückt. Da endet wirklich kein Song genau dort, wo er am Anfang hinzusteuern scheint! Insgesamt ein in aller Stille krass eigenständiges Album, das die Intimität seiner Entstehung behutsam festhält und durch ein fast schon telepathisch anmutendes Zusammenspiel musikalisch konsolidiert.
Wie schnell die Zeit vergeht. Schon wieder ist ein halbes Jahr vorbei und in diesem Zeitraum ist eine unfassbare Vielzahl von großartigen Platten erschienen. Zeit, ein kleines Zwischenfazit zu ziehen und einige Beobachtungen festzuhalten.
Kaum hat man die Weihnachtsplatten ausgepackt und im Regal einsortiert, nähert sich schon wieder mit Riesenschritten das garstige Sommerloch. Bevor wir alle in den wohlverdienten Sommerurlaub gehen, ist also erst noch ein kurzes Zwischenfazit nötig. Denn auch das Musikjahr rauscht ganz gerne mal an einem vorbei, ohne das irgendwelche konkreten Charakteristika hängen bleiben. Kein Wunder bei der Unmenge an Veröffentlichungen und der unfassbaren stilistischen Bandbreite.
Aber es gibt da schon ein paar Dinge, die sich irgendwie gehäuft haben. Und zwar in einem solchen Maße, dass die meisten Beispiele sogar für mehrere der entdeckten Trends gültig sind. Um es kurz zu machen: Die Fantasie-Band der Stunde besteht aus jungen Frauen und Männern aus Australien, spielt ungestimmte Gitarren durch ein Fuzzpedal und hat ein Lyric Video mit politisch motivierten Texten veröffentlicht. Das gibt es in der Konstellation zwar noch nicht komplett, aber Phantastic Ferniture (Bild) könnten es mit ihrem Ende Juli erscheinenden Debüt-Album tatsächlich noch schaffen…
1. Anti-Tune
Nach dem im Mainstream ohne Auto-Tune fast nichts mehr geht und auch der Rap-Underground exzessiven Gebrauch von künstlicher Intonation macht, kann man im Indie-Bereich seit neuestem eine Gegenbewegung ausmachen. Einfussreiche Produzenten wie Sam Evian verbannen Tuning-Pedale aus dem Studio und lassen damit eine leichte Verstimmung der Gitarren zu. Plötzlich kann man dann auch wieder in der Gesangskabine dreckig intonieren, ohne dass es gleich schief klingt wie bei der unfähigen Schülerband von nebenan.
Ein Musikvideo zu drehen bedeutet enormen Aufwand und kostet einen dicken Arsch voll Geld. Beides Dinge, die bei den lustigen Musikanten von heute nicht von den Bäumen wachsen. Schließlich verdient man mit der Musik so gut wie nichts, also tourt man die Hälfte des Jahres um die Welt und schafft sich den Rest der Zeit in versifften Bars den Buckel rund. Andererseits ist es auch gähnend langweilig, die geile neue Single einfach mit dem Albumcover als Standbild hochzuladen. Diesem Dilemma verdanken wir den endgültigen Durchbruch des Lyric Videos, einer wunderbaren Vernunftehe zwischen HD Stock Footage und kostenlosen Video-Apps mit Textfunktion.
Wenige Länder sind in den vergangenen Jahren auf der Coolness-Skala so dermaßen abgesunken wie Australien. War das Auswandern nach „Down Under“, das Anfeuern der „Socceroos“ und der Verzehr von Zitronenbier aus dem Hause „Two Dogs“ vor wenigen Jahren noch das Maß aller Dinge, so ist das Work&Travel-Halbjahr nach dem achtjährigen Abitur heute so etwas wie der Big Mac unter den spätpubertären Party-Sabbaticals. Ein Glück, dass die Musikszene des fünften Kontinents vehement zurückschießt: Die zeigt nämlich gerade den Amerikanern, wie man knackigen Folk-Rock für den Highway macht ohne sich in Retro-Klischees zu verheddern. Und dabei ist das wirkliche neue Album von The Paper Kites noch gar nicht erschienen, „On the train ride home“ war nur ein Teaser.
Können Frauen im Trend liegen? Darf man das sagen oder ist das schon impliziter Sexismus, getarnt als heuchlerisches Wohlwollen eines männlichen Kritikers? Fakt ist: Ausgerechnet abseits des Mainstreams hat die Musikszene in den vergangenen sechs Jahrzehnten eine ziemlich üble Sausage Party gefeiert. In einer Band spielen und auf Tour gehen, das war bis weit in das 21. Jahrhundert hinein noch fast ausschließlich eine sogenannte „Männersache“. Wenn schon Frau dann bitteschön als Solokünstlerin mit wohlfeilen Gitarrenakkorden und einem zarten Stimmchen, begleitet von ein paar – selbstverständlich männlichen – Mucker-Veteranen. Und deshalb ist es erfreulich, das so viele Frauen in Bands spielen, Bands gründen, gleichberechtigte Duo-Partner sind oder echte Bandleader werden. Vor allem, da die Ergebnisse qualitativ so überzeugend sind, dass selbst die unverbesserlichen Sexisten unter den Kritikern mal ordentlich das Maul gestopft bekommen.
Wollen wir uns jetzt wirklich auf diese zugegebenermaßen ziemlich nerdige Ebene herablassen und über Gitarren-Effekte reden? Ja, wollen wir. Müssen wir! Denn nachdem letztes Jahr jeder Akkord in mehreren Hektolitern psychedelische Chorus-Marinade eingelegt wurde, kann man in diesem Jahr die Wiedergeburt des eigentlich unschönsten aller Verzerrungs-Sounds beobachten. Fuzzzzz – der Name sagt alles über den Klang. Der Sound entstand schon Ende der Fünfziger, allerdings nicht durch die Überhitzung von Röhren, sondern durch einen wirklich kaputten Verstärker. Zunächst tauchte er ausgerechnet in der Country-Musik auf, dann auch im Surf-Rock, später bei den Beatles und ihren Nachahmern. In den 70ern wurde der Effekt dann durch die Entwicklung von „besser“ klingenden, knackigeren Verzerrern verdrängt und fiel für ein paar Jahrzehnte in einen mehr oder weniger tiefen Dornröschenschlaf. Höchste Zeit für ein fröhlich sägendes Revival im weitgefächerten Spektrum der traditionsbewussten Rockmusik von heute.
Nach der Machtübernahme durch Trump war die Verunsicherung in der extrem liberal eingestellten Indie-Szene Amerikas groß. Was kann, darf, soll oder muss ich musikalisch und textlich tun, um mich zu einem freiheitlich-demokratischen Amerika zu bekennen? Zu diesem Zeitpunkt wartete allerdings schon ein Jahresvorrat an absolut unpolitischer Wohlfühlmusik auf seine Veröffentlichung, kritische Stimmen warfen den Musikern Eskapismus und eine innere Emigration in nostalgische Gefühle vor. Ein schwachsinniger Gedanke angesichts der Planungszeiträume in der Musikindustrie, schließlich dauert die Reise von der Idee im Kopf zur Platte im Regal in der Regel mindestens ein Jahr. Konnte man gegen Ende des vergangenen Jahres durchaus schon den ein oder anderen politischen Unterton heraushören, häufen sich in diesem Jahr die eindeutigen Statements ziemlich eindeutig. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen, denn wenn wir heute eins nicht brauchen dann ist es Kunst, die sich in die Inszenierung einer heilen Welt flüchtet und vor der Realität die Augen verschließt.
Sam Evian aus New York ist als Solokünstler 2016 mit seinem grandiosen Debüt „Premium“ in Erscheinung getreten. Das zweite Album ist noch entspannter, noch ideenreicher und noch besser geworden.
Sam Owens ist nicht nur ein gefragter Sänger, Gitarrist, Produzent und Songwriter, sondern auch der Boyfriend von Model und Sängerin Hannah Cohen. Vor zwei Jahren ist er endlich auf die glorreiche Idee gekommen, all diese Funktionen als Sam Evian miteinander zu vereinen. Und da er in New York sehr gut vernetzt ist, hat er auf Anhieb ein zuverlässiges Label und kongeniale Mitmusiker gefunden, die bereits der ebenfalls empfehlenswerten Band Here We Go Magic angehören. Kein Wunder, denn seine Songs sind auf Anhieb mitreißend und eine dankbare Gelegenheit, dezent im Hintergrund mitzuschwimmen. Songorientierten Teamplayern macht so etwas einfach am meisten Spaß und das hört man auch.
Das Musikvideo zu You, Forever auf Youtube:
Das Album ist beim ersten, unaufmerksamen Hören insgesamt eher unspektakulär und eignet sich deshalb außerordentlich gut als Hintergrundmusik beim Autofahren, im Zug oder bei der Arbeit. Wer gut aufpasst, wird aber im Minutentakt mit liebevollen Details belohnt. Hier ein leise abgemixtes und verwaschen im Hallraum verschwindendes Saxofon-Solo, dort ebenso unaufdringliche und außergewöhnliche Gesangsharmonien von Hannah Cohen, vor allem aber alle paar Sekunden ein unglaublich geschmackvolles Gitarrenschmankerl von Sam Evian höchstpersönlich. Alles in allem ist You, Forever deshalb ein fantastisches Album, das trotz der weichgezeichneten Produktion jedes mal an Schärfe gewinnt und auch noch in ein paar Jahren den perfekten Soundtrack für einen lauen Sommerabend liefern wird.