Credit Electric – Credit Electric (2019)

Ein Meer aus verschwimmenden Akkorden: Obwohl die Jungs von Credit Electric in den urbanen Landschaften der Bay Area leben, suchen sie auf ihrem Debüt klanglich eher nach den unendlichen Weiten der Prärie.

Erschienen am 22. November 2019 / Kein Label

Wenn du allergisch auf Country reagierst und dir schon beim ersten cremig verschmierten Ton des Pedal Steels der Champagner hochkommt, bist du bei dieser Platte leider falsch. Hier werden so ziemlich alle verfügbaren Techniken angewandt, um die schwingenden Saiten des Rhythmusinstruments Gitarre und anderer Zupfinstrumente wie die Farben eines Aquarells verschwimmen zu lassen. Und wenn die theatralische Performance von Sänger Ryan LoPilato einsetzt, hast du gleich die nächste Hürde vor dir. Dieser Typ verlangt seinem Organ mit zweihundert Prozent Pathos Kapriolen ab, die sich andere nie trauen würden.

Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:

Du siehst ihn vor dir, wie er sich mit geschlossenen an seine Gitarre klammert und seinen Kopf bei höheren Tönen mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Mikrofon wegbewegt. Denn Gesang ist oft eine krasse Willensleistung und dementsprechend viel Herzblut fließt durch die Stimmbänder, was nicht jedermanns Sache ist. Doch wenn du jetzt noch dabei bist, hast du vielleicht wie ich schon eine der spannendsten Entdeckungen des Jahres gemacht. Die Musik von Credit Electric transzendiert ihre vermeintlichen stilistischen Limitationen und schwebt in einer anderen Sphäre als die Elemente, aus denen sie zu bestehen scheint. Das Zusammenspiel ist magisch, die Songs sind entschlossen formuliert und in der Gesamtatmosphäre kannst du dich für eine halbe Stunde einfach mal komplett verlieren. Und wenn der letzte Akkord verklungen ist wachst du plötzlich irgendwo in der grauen Realität auf und es besteht die reale Gefahr, dass du den ganzen Tag nichts anderes mehr hören willst.

Das ganze Album bei Bandcamp:

Nebenan im Plattenregal:
Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Gabriel Birnbaum – Not Alone (2019)
Itasca – Spring (2019)

 

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Molly Burch – First Flower (2018)

Nach einem vielversprechenden Debüt liefert Molly Burch ihr Meisterstück ab: First Flower ist zurecht auf gefühlt jeder Jahresbestenliste vertreten.

 

Erschienen am 5. Oktober 2018 auf Captured Tracks

Text: Samira Wacker

2018 war ein gutes Jahr für weibliche Künstlerinnen: Da wäre einmal das grandiose Comeback von Robyn, die uns nach 8 Jahren quasi aus dem Nichts „Honey“ um die Ohren haut, Hinds, die sich nach dem diesjährigen Dockville Festival endgültig in mein Herz gespielt haben und schlussendlich Cardi B, die uns mit ihrer Erfolgsstory zeigt, dass es doch noch Märchen gibt. Auch wenn sie 2018 im Stripclub und nicht hinter den sieben Bergen beginnen. Bei der Auswahl an starken Alben möchte ich euch aber eine Künstlerin empfehlen, die dieses Jahr leiser, aber nicht weniger bestimmt, verzaubert hat – Molly Burch. Die 27-Jährige wuchs in der Schauspielszene LAs auf, entschied bewusst gegen den Trubel der City of Angels und zog nach North Carolina, um dort Jazzgesang zu studieren. Ihre Labelheimat hat sie bei Captured Tracks gefunden. Nach einem vielgelobten Debüt, indem sie vorrangig eine gescheiterte Liebesbeziehung verarbeitete, erschien im Herbst nun das schwierige zweite Album. Die instrumentale Ummantelung auf „First Flower“ ist warm, kleinteilig und trotzdem zurückgenommen genug, um dem Gesang genug Freiraum zu geben. Der Sound erinnert an verträumte 60s-Balladen, aber auch Einflüsse von Gesangsgrößen wie Nina Simone, die Burch als große Inspiration nennt, kann man heraushören. Stimmlich verfügt Molly über eine große Bandbreite, was sicher auf ihre professionelle Ausbildung zurückzuführen ist. Der Gesang wirkt stellenweise brüchig und weich, in anderen Momenten der Platte stark und bestimmt. Die ganz eigene Art, Worte wie Kaugummi langzuziehen, um sie danach abrupt abzusägen, ist beeindruckend. Mit den Worten „Why do I care what u think? You‘re not my father.“ beginnt das Album sofort mit einem Highlight. „Candy“ ist die bittersüße, tanzbare Abrechnung mit einer toxischen Beziehung.


Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:

Während Songs wie „Without You“ und „Dangerous Place“ sich, wie bereits auf ihrem Debüt, mit gescheiterter Liebe auseinandersetzen, überzeugt „First Flower“ mit einer thematisch größeren Bandbreite. Besonders hervorzuheben ist hier „To The Boys“, der mit seiner sanften aber bestimmten Fuck-You-Attitüde begeistert. “I don’t need to scream to get my point across/I don’t need to yell to know that I’m the boss.” – Zeilen wie diese zeigen, dass sich Molly Burch während der Arbeit an „First Flower“ mit den eigenen Ängsten auseinandergesetzt und Friede mit ihren vermeintlichen Schwächen geschlossen hat. Diese emotionale Transparenz ist, was „First Flower“ als Album dieses Jahr so besonders macht – ein 11-Track-starkes Loblied auf die Softness. Während das Debüt konsequent von Herzschmerz durchzogen war, gibt es auf dem Nachfolger mit „Candy“, „Wild“ und „To The Boys“ auch Momente des Triumphes, eine Feier der eigenen Imperfektion. Gesangliche Finesse gekoppelt mit der verträumten musikalischen Ummantelung überzeugen im Zusammenspiel. „First Flower“ hinterlässt ein warmes und zufriedenes Gefühl, macht Lust aufs Verlieben und überzeugt auf Platte genauso wie live.


Das ganze Album bei Bandcamp:


 


Nebenan im Plattenregal:

The Saxophones – Songs of the Saxophones (2018)
Jess Williamson – Cosmic Wink (2018)
Anna St. Louis – If Only There Was A River (2018)

Kali Uchis – Isolation (2018)

Nach ihrer EP „Por Vida“ wurde Kali Uchis schon 2015 als neue Pop-Hoffnung gefeiert. Im April 2018 erschien das Debütalbum „Isolation“ der kolumbianischen US-Amerikanerin, das zwar Assoziationen zu modernem Neo-Soul zulässt, aber viel mehr ist als ein weiteres R&B-Album im 90er-Jahre Nostalgiegewand.

Erschienen am 13. April 2018 bei Virgin EMI

Text: Schira Kissin

„Isolation“ ist eine Auseinandersetzung Uchis mit der Einsamkeit, die sie als Teenager erfahren hat. Nach einem Streit mit den Eltern zieht die damals 17-jährige aus und schläft monatelang in ihrem Auto. In dieser Zeit entstehen Gedichte, die später zu Songtexten wie dem von „Loner“, erschienen auf der EP „Por Vida“, oder „Killer“, dem Schlusstrack des Albums, werden. „If you loved me, you wouldn’t put me through it“, singt Uchis mit ihrer zart rauchigen Stimme in „Killer“ über missbräuchliches Verhalten innerhalb einer Beziehung, die sie über fünf Jahre führt und durch die sie sich tiefer von ihrer Umgebung isoliert.

Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:

„I’m packing all my bags and leaving it behind / there’s no tracking where I’m going” kündigt Kali Uchis im Intro „Body Language“ an und setzt damit nicht nur inhaltlich sondern auch musikalisch den Ton für „Isolation“. Innerhalb der nächsten knappen Stunde überrascht die Sängerin immer wieder mit verschiedensten Einflüssen und scheut nicht davor zurück, sich dafür die ein oder andere Starbesetzung mit ins Boot zu holen. Von Rapperin BIA, mit der sie in „Miami“ den American Dream besingt, zu The Internet‘s Steve Lacy in der Selbstfeierungshymne „Just a Stranger“, Tame Impala’s Kevin Parker, der die träumerischen Sounds auf „Tomorrow“ einspielt, Jorja Smith in der neo-souligen Single „Tyrant“, Tyler The Creator und Funk-Legende Bootsy Collins in der Hitsingle „After The Storm“ bis hin zu Damon Albarn, mit dem sie sich auf melancholischste Art bei „In My Dreams“ eine Welt erträumt, in der die einzige Sorge die Wahl des Outfits ist.

Auf ihrem Debütalbum überzeugt Uchis mit Einflüssen aus Bossa Nova, Soul, Reggaeton und Funk und erschafft so ein überraschend kohärentes Werk, das sowohl instagramsüchtige Teenies als auch den ein oder anderen selbsternannten Musikexperten überzeugt.


Das ganze Album bei Spotify:


Nebenan im Plattenregal:

Natalie Prass – The Future and the Past (2018)
Homeshake – Fresh Air (2017)
Slow Dancer – In A Mood (2017)

Tré Burt – Caught It From The Rye (2018)

Sacramento ist hierzulande nicht unbedingt als Hotspot der Musikszene bekannt. Tré Burt wird das auf die Schnelle zwar nicht ändern, provoziert mit seinem faszinierenden Debüt aber immerhin schon mal Vergleiche mit einer der größten Legenden in der Geschichte der Folkmusik.


Erschienen am 9. November 2018 auf Bandcamp

Außer einer Empfehlung von einer befreundeten Musikerin gab es nicht wirklich Promo für die erste LP von Tré Burt. Der junge Mann aus Sacramento sucht nicht unbedingt das Rampenlicht, auf Musikvideos und ein Label verzichtet er ebenso wie auf Begleitworte oder die obligatorische Selbstinszenierung in den sozialen Medien. Seine Rolle ist die des Outsiders, des einsamen Bluesmans am Scheideweg des Lebens. Und dennoch hat er nach der digitalen Veröffentlichung seines Debüts auf allen Plattformen ein Crowdfunding für ein Vinyl-Release ins Leben gerufen, dessen Unterstützung sehr zu empfehlen ist.

Ein kleiner Vorgeschmack auf Youtube:

Das mediale Understatement steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu Tré Burts künstlerischen Ambitionen. Offensichtlich orientiert er sich musikalisch an der ikonischen Figur des Jackson C. Frank, der in den Sechzigern mit einem einzigen fantastischen Album zur Folk-Legende wurde, bevor ihn psychische Krankheiten zu einem abrupten Karriereende zwangen. Sowohl an der Gitarre als auch auf dem Gebiet des Songwritings reichte das jedoch aus, um an der Schnittstelle zwischen Country, Folk und Blues bis heute unerreicht zu bleiben. Mit Caught It From The Rhye gelingt es Tré Burt wie bislang keinem anderen Künstler, an das Werk Franks anzuknüpfen und dabei auch noch eigene hoffnungsvolle Akzente zu setzen.

Das ganze Album auf Bandcamp:

Im gleichen Regal einsortiert:

Buck Meek: Buck Meek (2018)
Haley Heynderickx – I need to start a garden (2018)
Anna St. Louis – If Only There Was A River (2018)

Michael Nau – Michael Nau & The Mighty Thread (2018)

Schon im dritten Jahr in Folge veröffentlicht Michael Nau mitten im Sommer ein komplettes Album. Das neueste Werk überzeugt vor allem durch die Emanzipation seiner Band „The Mighty Thread“ von der reinen Begleitung seiner Folksongs zu einem Impulsgeber in Sachen Groove.

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Erschienen am 3. August 2018 auf Full Time Hobby

Man kann inzwischen die Uhr danach stellen: Jedes Jahr mitten im Sommerloch bringt Michael Nau eine neue Platte heraus und Bandcamp kürt sie kurzentschlossen zum Album of the day. Das geht jetzt schon seit 2016 so und kann auch gerne so weitergehen. Denn der Erfolg dieser Veröffentlichungen beruht nicht primär auf dem Mangel an Neuerscheinungen in der Sommerpause, sondern auf der enormen musikalischen Qualität. Ob mit seinen Bands Cotton Jones und Page France oder Solo unter eigenem Namen: Jeder Song von Michael Nau hat Hand und Fuß, aber vor allem auch ein Herz und eine Seele. Auf den letzten beiden Platten überwog noch eine scheinbar unüberwindbare, sonnengebleichte Melancholie. Nun fühlt man sich hier und da fast schon wie bei einer zwar immer noch ziemlich entspannten, aber durchaus feuchtfröhlichen Gartenparty mit Tanzorchester.

Das Musikvideo zur Single „On Ice“ auf Youtube:

Wie der Albumtitel schon sagt, verschiebt sich der Fokus von der Songwriting-Essenz noch ein wenig mehr in Richtung Band. Eine gewisse Funkyness stellt sich im instrumentalen Bereich ein, die Michael Nau auch gesanglich aufgreift. Schon auf der letzten Platte „Some Twist“ outete sich der ehemalige Folkie als Besitzer einer amtlichen Soulstimme, getragen von den ausladenden Grooves lässt er sie nun noch häufiger raus. Zudem lichtet sich der Nebel aus Hall und Lo-Fi-Knistern wieder ein wenig und gibt den Blick frei auf die außerordentlich detaillierten und geschmackvollen Arrangements. Da schleichen leise Orgeln und wabernde Synthies im Hintergrund umher, lateinamerikanische Percussions lockern die stoischen Schlagzeugrhythmen ein wenig auf und elektrische Vibrato-Gitarren überbieten sich gegenseitig mit lapidaren Solos. Und so perfektioniert Michael Nau erneut die vergessene Kunst, ein Album zu machen, das an einem heißen Sommertag einfach vorbeirauscht und doch einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Das ganze Album auf Spotify:


Ähnliche Alben:

Michael Nau – Some Twist (2017)
Michael Nau – Mowing (2016)
Kevin Kratuer – Toss Up (2018))

Bobbie Gentry – Ode to Billie Joe (1967)

Bobbie Gentry hatte Ende der Sechziger Jahre kurzzeitig enormen Erfolg mit ihrer Mischung aus Country und Blues. Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen ihres berühmtesten Albums ist es an der Zeit, diese unglaublich atmosphärischen Songs voller Südstaatenflair endlich wiederzuentdecken.

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VÖ: September 1967 auf EMI
Referenzen: Joan Baez, Bedouine, Janis Joplin
Stichworte: Abends / Herbstwetter / Wein / Zu zweit

Vor 50 Jahren erfolgte durch eine Revolution in der Aufnahmetechnik ein gewaltiger Kreativitätsschub in der Popmusik. Bands wie die Beach Boys oder die Beatles fingen an, Songs im Studio Spur für Spur zusammenzubasteln. So entstanden surrealistische Kunstwerke wie die Alben “Pet Sounds” oder “Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band”. Letzteres wurde in den USA im Herbst 1967 als Nummer eins der Album-Charts von Bobbie Gentry abgelöst, einer jungen Sängerin aus den Südstaaten, die “schwarzen” Soul und “weißen” Country verband.

Da Bobbie Gentry wenige Jahre später überraschend ihre Karriere beendete und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, ist sie heute weitestgehend in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist der 50. Geburtstag ihrer erfolgreichsten Platte ja ein erster Anstoß zur Wiederentdeckung dieser beeindruckenden Sängerin. In einer Zeit, als Frauen zumindest als Songwriterinnen noch die absolute Ausnahme waren, nimmt sie selbstbewusst in der riesigen Lücke zwischen dem aristokratischen Folk einer Joan Baez und dem eruptiven Blues von Janis Joplin Platz.

 

 

 

Childhood – Universal High (2017)

Das zweite Album von Childhood überzeugt mit einem fein abgeschmeckten Cocktail aus 70s Soul, psychedelischen Synthies und Yacht Rock. Die sonnendurchfluteten Grooves sorgen für gute Laune und eignen sich besonders für einen beschwingten Start in einen sonnigen Tag.

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VÖ: 21.7.2017 auf Marathon Artists
Klingt fast ein bisschen wie: Roy Ayers, Pablo Cruise, Nick HakimHomeshake
Stichworte: Morgens / Sonne / Kaffee / Zu zweit

Auf ihrem Debüt-Album hatten sich Childhood aus London noch ein wenig in der heiß umkämpften Retro-Welt zwischen Post-Punk, College Rock, Shoegaze und Dream-Pop verzettelt. Mit Universal High machen die Jungs einen großen Schritt nach vorne, denn in der dreijährigen Pause zwischen den Releases haben sie endlich einen eindeutig wiedererkennbaren, eigenen Stilmix gefunden. Der zeitliche Rahmen der Inspirationsquellen bleibt zwar ungefähr der gleiche, allerdings richtet sich der Blick nun eher auf die andere Seite des großen Teichs und auf die psychedelischen Experimente der Soulmusik in der zweiten Hälfte der Siebziger.

Im Vergleich zu stilistisch artverwandten Studio-Spezialisten spielt bei Childhood der Bandkontext und die damit verbundene Illusion einer Live-Performance aber eine wesentlich größere Rolle. Einige Songs erinnern fast ein bisschen an das kurzlebige Phänomen, das manche Musikjournalisten treffend als „Yacht Rock“ bezeichnet haben, also luftigen bis seichten Gitarrenpop mit ungenierten Anleihen aus Rock und Funk. Dieser Vergleich ist ein bisschen irreführend, da der Begriff heute eher als Schimpfwort in Gebrauch ist, denn die meisten Platten aus diesem Bereich waren schon nach kürzester Zeit wieder vergessen. Angesichts der durchgehend hohen Qualität von Universal High ist davon auszugehen, dass Childhood dieses Schicksal erspart bleibt.

Nick Hakim – Green Twins (2017)

Auf seinem Debüt beweist Nick Hakim, dass Soul sich nicht immer an den goldenen Sechzigern orientieren muss. Mit Green Twins gelingt ihm nicht nur auf Anhieb ein fantastisches Album, sondern auch ein wichtiger Impuls für eine musikalisch zuletzt etwas stagnierende Szene.

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VÖ: 19.5.2017 auf ATO
Klingt fast ein bisschen wie: Shuggie Otis, Roy Ayers, The Foreign Exchange
Stichworte: Nachts / Regen / Cola / Zu Zweit

Obwohl er noch gar nicht so alt ist, kann man Nick Hakim fast als Spätstarter bezeichnen. Erst mit zwanzig Jahren begann er, intensiv Musik zu machen und einzelne Songs im Internet zu veröffentlichen. Nach drei Jahren Arbeit veröffentlicht der Sänger und Gitarrist nun endlich sein Debüt-Album, auf dem er die psychedelischen Abwege des Soul Mitte der Siebzigern nachspürt und diese teilweise mit elektronischen Mitteln von heute neu interpretiert.

Dabei ist nicht nur extrem stilvolle und entspannte Musik entstanden, sondern auch eine Entdeckungsreise in eine oft links liegen gelassene Spielart psychedelischer Popmusik. Das Interesse an Soul richtet sich heute fast ausschließlich auf die klassische Zeit um 1970 und den fetten, geradlinigen Vintagesound von Labels wie Stax und Motown. Ein Bereich, aus dem selbst zweit- und drittrangige Namen heute gerade bei Plattensammlern wohlbekannt und teilweise äußerst begehrt sind. Von den Künstlern, die später mit psychedelischen Sounds aus Synthesizern und Drumcomputern herumexperimentiert haben, sind nur noch eine Handvoll im Gespräch. Das ist sehr schade, aber vielleicht kann Nick Hakim mit seinem fantastischen und vor allem in den USA vielbeachteten Album dazu beitragen, dass dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene Seitenarm der Popmusikgeschichte wiederentdeckt wird.

The Deslondes – The Deslondes (2015)

Als The Deslondes 2015 ihr erstes Album veröffentlichten, hatten die Mitglieder sowohl musikalisch als auch menschlich schon einiges erlebt. Das Ergebnis sind handwerklich beeindruckende Songs zwischen Country und Soul, die aus dem tiefsten Inneren der Musiker und des ländlichen Amerikas kommen.

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VÖ: 9.6.2015 auf New West
Klingt fast ein bisschen wie: Hank Williams, The Gourds, Huey Smith
Passt gut zu: Lampions, Grillparty, Bourbon

New Orleans ist nicht gerade als Country-Mekka bekannt. Solche Verallgemeinerungen sind aber immer mit Vorsicht zu genießen, denn erstens haben Leute wie Huey „Piano“ Smith in der Stadt schon immer „weiße“ und „schwarze“ Musik vermischt. Und zweitens soll es ja auch Dönerläden geben, die eine ganz anständige Pizza machen. In der heruntergekommenen Deslonde Street haben sich jedenfalls ein paar echte Nerds zusammengefunden, die bislang mit soliden, aber weitgehend erfolglosen Projekten wie The Tumbleweeds ihre Lehrjahre verbracht haben. Dabei haben sie offensichtlich alle wahnsinnig viel Musik gehört und gemacht, denn ihr Debüt in der neuen Konstellation klingt, als hätten sich die fünf seit den 50ern als Straßenmusikanten durchgeschlagen und dabei nicht nur ganz viel Staub gefressen und Scheiße erlebt, sondern auch alle Spielweisen zwischen Roots Soul und Nashville Country von der Pike auf gelernt, umgerührt und in einen unverkennbar eigenen Bandsound gegossen. Ein Album wie eine enzyklopädische Abhandlung über die unendlichen Weiten der Musik des ländlichen Amerikas, über alle vermeintlichen ethnischen oder stilistischen Barrieren hinweg.

Das zweite Album „Hurry Home“ erscheint am 23.6.2017 auf New West!

Hall & Oates – Abandoned Luncheonette (1973)

VÖ: 3.11.1973 auf Atlantic
Klingt fast ein bisschen wie: Blood, Sweat & Tears, The Faces, Pink Floyd
Passt gut zu: Samstagmorgen, Kaffeeduft, Apfelkuchen 

Daryl Hall & John Oates sind allgemein eher für ihre späteren Hits wie Kiss on my list, Out of touch und Maneater und die entsprechend kitschige Produktion bekannt. Umso überraschender ist, was sie auf ihren früheren Alben und besonders auf diesem hier abziehen. 1973 agierten die beiden als Doppelspitze einer perfekt eingespielten Band in klassischer Besetzung und hatten bereits ein zuverlässiges Näschen für Ohrwürmer an der Schnittstelle zwischen Rock, Soul und Pop. Aber wo sie später alles auf den Refrain ausrichten, nehmen sie hier fast überall lohnenswerte Umwege in Richtung Lagerfeuer, Blueskneipe oder sogar in die unendlichen Weiten des Psychedelic Rock.

Aus heutiger Sicht eröffnet uns diese extrem facettenreiche Platte ein Fenster in ein kommerzielles Hitlabor in seiner kreativen Frühphase. Damit steht es emblematisch für die Entwicklung der Musikindustrie in einer Phase, als der wilde Westen schon vorbei war, die fortschreitende Professionalisierung aber noch nicht in die Serienproduktion von Musikgütern umgeschlagen hatte. Schade, dass die zwei diesen Prozess später so radikal mitgemacht oder sogar mitgestaltet haben und dann relativ sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden sind.