Hand Habits – Fun House (2021)

Schon von weitem siehst du die Vögel. Ein Schwarm wie ein Schleier über der Landschaft, seidig und fließend, schwarz und silber. Ja ok, jetzt ist es halt Herbst. Noch ein paar Sekunden, dann verschwindet die Sonne endgültig hinter den Bäumen. Du siehst noch das Licht auf den Hügeln da hinten, aber hier auf dem Feld ist es schon schattig, dunkel, kalt. Deine Jeansjacke hast du heute Nachmittag aus dem Schrank geholt, als es noch sonnig und warm war. Du gehst etwas schneller, nach Hause ist es eine knappe Stunde.

In der Küche stellst du erst mal Wasser auf, dann ziehst du deinen wärmsten Pulli an und setzt dich in den Sessel. Draußen fallen schon die ersten Tropfen, als du die grünen Blätter bei ihrem Tanz in der Kanne verfolgst. Langsam beginnt der Tee messingfarben zu leuchten. Du schenkst dir eine Tasse ein und beobachtest den Regen, der sich an der Fensterscheibe seinen Weg nach unten sucht. Gut, dass es ein neues Album von Hand Habits gibt.

Nebenan im Plattenregal:
Hand Habits – Placeholder (2019)
Anna Burch – If You’re Dreaming (2020)
Outer Spaces – Gazing Globe (2019)

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Caroline Rose – Superstar (2020)

Indie Pop / Indie Rock / Synth Pop

Wer hätte geahnt, dass ausgerechnet sie eines Tages zur unumstrittenen Ikone der Popmusik aufsteigen würde? Jahrelang hatte sie sich mit ihrer abgerockten Punkband die Finger wund gespielt, jeden Abend stand sie auf einer anderen wackeligen Bühne in einem halbleeren, versifften Saal und spielte für eine Mischung aus notorischen Losern und hoffnungslosen Musiknerds ihre schrägen Songs. Die Städte waren klein, die Gagen noch kleiner, der zum Bandbus umfunktionierte alte Laster aus dem Altbestand der pleite gegangenen Umzugsfirma ihrer Mutter pfiff aus dem letzten Loch. Selten blieb das Publikum bis zum letzten Song, Zugaben wurden fast nie verlangt. Nach und nach hatte sich die Gewohnheit eingeschlichen, einfach irgendeinen Song als letzten anzukündigen, solange noch Leute da waren. Aus Müdigkeit und Verzweiflung kam diese Maßnahme bei jeder Show etwas früher, die Konzerte wurden immer kürzer. Eines Tages war es so weit, sie kam mit den Worten „Hey, this is our last song“ auf die Bühne. Das Publikum rastete aus und verlangte nach jedem Song eine weitere Zugabe, drei Stunden lang mussten sie ihr gesamtes Repertoire inklusive Coverversionen abspulen. Es war ein magischer Abend, alle lagen sich in den Armen und weinten vor Glück. Der alternde Feuilletonchef der dümpelnden Lokalzeitung war fassungslos und schrieb noch in der Nacht eine ganze Seite über das Konzert, der Rest ist Musikgeschichte.

Nebenan im Plattenregal:
TOPS – I Feel Alive (2020)
Caroline Rose – Loner (2018)
Kevin Krauter – Toss Up (2018)

Anna Burch – If You’re Dreaming (2020)

Indie Rock / Indie Pop / Dream Pop

Seit Wochen hatte es ununterbrochen geregnet, ich saß jeden Tag viele Stunden an meinem Schreibtisch mit Blick hinunter ins Tal. Die Vorräte gingen langsam zur Neige, bald würde es wieder Zeit für den langen Fußmarsch ins Dorf werden. Die Wolkendecke war die meiste Zeit so dicht, dass Tage und Nächte sich nicht mehr abwechselten, sondern in einer sanften Wellenbewegung ineinander flossen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es schon wieder viel länger hell war als noch vor dem Beginn des Regens. Als eines Abends plötzlich die Sonne herauskam und die ungewohnte Helligkeit mich blendete, schaute ich ungläubig hinaus in eine golden leuchtende Welt. Wie in Trance zog ich meine Jacke an und ging nach draußen, schnell durch einen Fichtenhain zu diesem Weg am Waldrand, auf dem ich um diese Uhrzeit noch etwas Sonnenlicht vermutete. Ich hatte mich etwas verschätzt, es fielen nur noch einzelne Strahlen zwischen Baumstämmen hindurch auf den knirschenden Weg. Als ich auf eine große Pfütze zuging, sah ich plötzlich eine riesige Kröte am Wegesrand. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf gegenüber und wir betrachteten uns gegenseitig. Dann sagte ich in die Stille hinein: Grüß Gott! Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Die Kröte schaute mich weiter an, so als würde sie über eine passende Antwort nachdenken. Mehrere Minuten vergingen, ohne dass ein weiteres Wort gesprochen wurde. Dann hüpfte sie plötzlich davon, hinunter auf die klatschnasse Wiese.

Nebenan im Plattenregal:
Hand Habits – Placeholder (2019)
Bonny Doon – Long Wave (2018)
Stella Donnelly – Beware Of The Dogs (2019)

Twain – Adventure (2019)

Cosmic American Music / Indie Folk

Er war monatelang auf Tour in Europa und hatte sich unterwegs beim Schwimmen im Atlantik den Fuß gebrochen. Am Himmelfahrtstag spielte er nachmittags eine Show im Freien, ungefähr 50 Meilen entfernt. Mein Freund fuhr mit seinem alten Mercedes hin und holte ihn ab, gegen sechs Uhr Abends trafen die beiden in der Scheune ein. Mit seiner improvisierten Krücke gab er zunächst ein mitleidserregendes Bild ab, doch als er mit seiner Gitarre auf dem Barhocker saß, wirkte er plötzlich sehr lebendig. Wir tranken Rotwein aus großen Gläsern und als er anfing zu spielen, waren alle geschockt von der Schönheit seiner Musik, dem elektrisierenden Klang der Saiten und dem Feuer in seiner Stimme. Später zogen wir weiter und setzten uns auf meinen Balkon, es war noch sehr warm. Ich ging rein und legte Astral Weeks auf, während er das geprägte Leder auf meinem antiken Klavierhocker bewunderte. Morgens lief ich zu einem Bauernhof und kaufte frische Erdbeeren. Als er ausgeschlafen hatte frühstückten wir in der Sonne. Danach nahm er ein Bad und sang dabei laut ein paar Songs von Creedence Clearwater Revival.

Nebenan im Plattenregal:
Simon Joyner – Pocket Moon (2019)
Twain – Rare Feeling (2017)
Twain – Life Labors in the Choir (2014)

Wilco – Ode To Joy (2019)

Indie Rock / Folk Rock / Americana

Die Entzugsklinik war in einem der ärmeren Vororte von Chicago, die Gebäude waren aus rotem Backstein. Alle Wände und Kleider waren weiß, die Bäume und Wiesen leuchtend grün. Jeff hatte nach einem Monat Aufenthalt im geschlossenen Teil das Schlimmste überstanden und durfte in einen Übergangsbereich ziehen, wo die Überwachung etwas lockerer war. Ein Besucher brachte ihm eine Gitarre vorbei, aber es waren immer und überall andere Menschen um ihn herum. Am wenigsten war in der Waschküche los, also schlich er sich dort hinein und begann einen alten Song zu spielen. Seine Hände betasteten das Instrument zunächst wie einen fremden Gegenstand, aber nach kurzer Zeit war alles wie früher. Er sang leise vor sich hin und fühlte sich ungestört. Plötzlich bemerkte er den alten Mann, der die ganze Zeit in der Waschküche war. Er lächelte und sagte: „Mein Sohn, du hast wirklich Talent. Dir fehlt nur das Selbstvertrauen, aber du gehörst auf die Bühne.“

Nebenan im Plattenregal:
Cass McCombs – Tip of the Sphere (2019)
BNQT – Volume 1 (2017)
M. Ward – Migration Stories (2020)

Mapache – From Liberty Street (2020)

Indie Folk / Folk Rock / Cosmic American Music

Wir sind wie die Higuerilla, diese wilde Pflanze, die an den magersten und schroffsten Orten wurzelt und sich vermehrt. Schau mal, wie sie im Sand wächst, im ausgetrockneten Abwasserkanal, in der gerodeten Fläche neben der Müllkippe. Sie bittet um nichts von niemandem, alles was sie zum Überleben braucht, ist ein Stück Boden. Weder die Sonne im Himmel noch das Salz in der Erde, nicht mal der Sturm über dem Meer kann ihr was anhaben, geduldig lässt sie sich von den Menschen treten und von den Traktoren überrollen. Doch die Higuerilla wächst weiter, verbreitet sich, ernährt sich von Stein und Abfall. Dort, wo wir an der Küste diese Pflanze finden, dort lassen wir uns nieder und bauen unsere Hütte. Denn hier werden auch wir leben können.

Nebenan im Plattenregal:
Mapache – Mapache (2019)
Cordovas – That Santa Fe Channel (2018)
Marla & David Celia – Daydreamers (2018)

Gabriel Birnbaum – Nightwater (2020)

Instrumental / Ambient / LoFi

Den ganzen Tag habe ich einen Bildschirm angestarrt, das schwachblaue Glühen hat sich durch die Netzhaut in mein Hirn eingebrannt. Ich bin seit Tagen so schlaflos wie die Stadt, in der ich lebe. Überall ist Lärm, alles ist in Aufregung, durch Drähte und Strahlen dringt die Unruhe bis ganz tief in mein winziges Appartement. Meine Ohren sind umschlossen von dicken Kopfhörern, die Augen habe ich seit Stunden nicht geöffnet. Ich erfühle die Aufnahmetaste, der Motor knackt kurz und das Band beginnt sich zu drehen. Meine Hände gleiten über die Klaviatur, ich drehe an den Reglern und lasse mich von der Strömung der Klänge treiben, weit weg in eine andere Zeit. Plötzlich ein lautes Knacken, das Band ist zu Ende. Ich öffne die Augen und sehe aus dem Fenster, es ist Tag. Ein Lieferwagen hält vor dem Liquor Store gegenüber, der Fahrer steigt mit einem Paket unter dem Arm aus und drückt auf die Klingel.

Nebenan im Plattenregal:
Luke Temple – Both-And (2019)
Yves Jarvis – The Same But By Different Means (2019)
Art Feynman – Blast Off Through The Wicker (2017)

Sam Doores – Sam Doores (2020)

Folk / Country / Cosmic American Music

Gestern Abend habe ich beim Fischen im Bayou einen Alligator erspäht. Er lag ganz ruhig unter einem Mangrovenbaum, ungefähr sechzig Fuß entfernt. Ich wusste zuerst nicht, ob er tot war oder schlief, aber dann blinzelte er plötzlich und sah mir direkt in die Augen. Ganz langsam packte ich mein Angelzeug zusammen und lief rückwärts, Schritt für Schritt umkurvte ich die Tümpel. Als der Boden fester wurde, rannte ich los. An den Hütten vorbei bis zur Flussmündung, wo mein Freund George mit seiner Familie in einem Haus mit Anlegestelle lebt. Niemand war da, also nahm ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank auf der Terrasse und setzte mich ganz vorne auf den Steg. Die Sonne stand schon sehr tief und es war fast windstill, der Rauch meiner Zigarette stieg nach oben wie aus einem Schornstein. Ich nahm meinen Rucksack und kramte in den Taschen, bis ich etwas kühles, metallisches fühlte: Meine alte Mundharmonika.

Nebenan im Plattenregal:
Anna St. Louis – If Only There Was A River (2018)
The Deslondes – The Deslondes (2015)
Bobbie Gentry – Ode to Billie Joe (1967)

M. Ward – Migration Stories (2020)

Singer/Songwriter / Americana / Folk Rock

Es ist lange her, dass wir uns getroffen haben. Beim letzten Mal war ich noch einigermaßen jung und du warst noch nicht wirklich alt. Wir waren auf einer Hausparty mit den coolsten Leuten der Stadt, es gab Drogen und die Zeit stand still. Und jetzt also hier, in dieser dunklen Kaschemme. Der Rauch ist so dick und beißend in den Augen, ich habe dich fast nicht erkannt mit deinen grauen Haaren und deiner Kapuze. Du lehnst dich müde auf die Theke und erzählst mir, wo du überall herumgekommen bist in den ganzen Jahren. Wie du die ganze Welt auf den Kopf stellen wolltest und wie es sich anfühlte, all deine Träume nacheinander leise platzen zu sehen wie Seifenblasen im Regen. Jetzt ist alles vorbei und was uns bleibt, sind die langsam verblassenden Erinnerungen. Mach’s gut, hat mich gefreut dich mal wieder zu sehen.

Nebenan im Plattenregal:
Simon Joyner – Pocket Moon (2019)
Living Hour – Softer Faces (2019)
Cass McCombs – Tip of the Sphere (2019)

Kyle Forester – Hearts in Gardens (2020)

Indie Pop / Soft Rock / Dream Pop

Der Kaffee ist heiß, der Kuchen ist noch ein bisschen warm. Heute bleib ich einfach mal zuhause, ist doch auch schön hier. Und wenn ich Fernweh habe, dann mach ich die Augen zu und träume vom Meer oder den Bergen. Du kannst mitfahren, halte einfach deinen Daumen raus und warte ein paar Minuten. Mein imaginäres Auto ist klimafreundlich und muss weder in die Werkstatt noch in die Waschanlage. Aber wir können das Verdeck auf und das Radio anmachen, und dann fahren wir über die Landstraße nach Hause.

Nebenan im Plattenregal:
Stephen Steinbrink – Utopia Teased (2018)
Big Search – Slow Fascination (2019)
Hannah Cohen – Welcome Home (2019)